Grün war die Hoffnung
die bleiche, windgepeitschte Sonne, um uns herum das Stimmengetöse, und ich frage mich unwillkürlich, wie es wohl sein wird. Wir könnten noch gut fünfundzwanzig oder sogar fünfzig Jahre lang leben. Der Gedanke deprimiert mich. Was wird dann noch übrig sein?
»Du ißt nichts«, sagt sie. Ein Dutzend Kinder – Kleinkinder, Babys – laufen heulend zwischen den Tischen herum, ducken sich unter den erhobenen Armen der Kellner durch und verschwinden in dem Meer von Gesichtern. Ihre Zahl ist unendlich, denke ich, diese vielen hungrigen, grapschenden Menschen, die dem Neuen und Besseren, dem Tollen und Unvergänglichen nachjagen, und ich stehe allein gegen sie alle – aber das ist genau die Haltung, die mich damals vor vielen Jahren irregeleitet hat. Lieber gar nicht denken. Lieber nicht handeln. Einfach nur das Banner der Sinn- und Zwecklosigkeit schwenken und die Nase in einem Glas Sake versenken. »Meins ist nicht übel«, sagt Andrea und hält mir eine Gabelvoll eitergelben, in salsa roja getunkten Wels entgegen. »Willst du probieren?«
Ich schüttle nur den Kopf. Mir ist zum Heulen. Wels .
Sie spricht jetzt sehr leise, so leise, daß ich sie kaum hören kann bei dem Radau. »Weißt du was« – dabei durchwühlt sie ihre Handtasche, die das Format eines an zwei schwarzen Lederbändern aufgehängten Überseekoffers hat –, »ich hab was für dich. Ich dachte mir, daß du dir das wünschen würdest.«
Wie reagiere ich darauf? Mit einem kläglichen Hundeblick aus großen feuchten Augen. Ich wünsche mir gar nichts, außer daß die Welt wieder so wird wie früher, daß ich meine Tochter und meine Eltern zurückbekomme und daß die ausgestorbene und todgeweihte Fauna Amerikas – der Brillensichler, die Indiana-Fledermaus, der Marguay, die Perdido-Key-Strandmaus, der kalifornische Grizzly und die Chittenango-Bernsteinschnecke – wieder da wäre, so sie hingehört. Ich will nicht in dieser Zeit leben. Ich möchte in der Vergangenheit leben. In der fernen Vergangenheit. »Was denn?« frage ich mit tonloser Stimme.
Das Rascheln von Papier. Die Streicher schrummeln und klettern die Oktaven hoch, sie spülen jedes Leben aus dieser schleppend langsamen Bearbeitung von Sympathy for the Devil . Ich sehe ihre Hand etwas über den Tisch schieben, einen Stapel Papier – echtes Papier –, und die Zeilen der Schrift darauf wirken wie verschlüsselte Hieroglyphen. Und dann halte ich ihn auf Armeslänge von mir weg und blinzle, bis mir die Augen tränen, so daß ich meine Taschen nach der Lesebrille abklopfe.
»Hab’s mir ausgeliehen«, sagt sie. »Na ja, eigentlich geklaut.«
Gerade will ich fragen: »Was? Was ist das?«, da findet die Brille den Weg auf meine Nase und ich sehe es selbst.
Es ist ein Manuskript. Ein Buch. Und der Titel, der mit einemmal lesbar ist, starrt mich unter dem Zellophanschutz der Titelseite an:
MÄRTYRERIN FÜR DIE BÄUME: DIE GESCHICHTE DER SIERRA TIERWATER
VON APRIL F. WIND
Wie die Geschichte endet, weiß ich schon.
Aber da ist es, ein konkretes Ding, unbestreitbar, ein Gewicht in meiner Hand. April F . Wind? Wofür das »F.« wohl steht? frage ich mich. Für »Fliegender«? »Fall-«? »Fortwährender«? Ich blättere flüchtig in den Seiten, das handfeste Geräusch von Papier, eines Ausdrucks, der Stoff des Wissens, so wie in den Zeiten, bevor man es aus Steckdosen bezog. Reden wir hier nicht über die Ungenauigkeiten und den albernen Esoterik-Revisionismus oder die New-Age-Psychoanalyse, sondern über das Ende, nur darüber.
Sierra setzte den Rekord. Setzte ihn täglich aufs neue, so wie Kafkas Hungerkünstler, doch im Gegensatz zu diesem entrückten Artisten hatte sie ein Publikum. Ein echtes und ständig wachsendes Publikum, das Wallfahrten zum Schrein ihres Redwoods unternahm, ihr bis zu tausend Briefe pro Woche schrieb und Denkmäler errichtete, Gedichte dichtete und Lieder textete, Menschenketten bildete und für sie marschierte, bis Axxam einen abgrundtief schlechten Ruf hatte. Insgesamt blieb sie knapp über drei Jahre dort oben, hoch über dem Getümmel, die Vögel ihre einzige Gesellschaft, geborgen in ihrer Umwelt wie eine Schnecke in ihrem Haus oder eine Muräne im sicheren Versteck ihrer Höhle.
Zu Anfang – in den Wochen und Monaten nach Climber Dekes gescheitertem Versuch, sie herunterzuholen – brachte Coast Lumber eine Schikanenkampagne ins Rollen, die sie entweder zum Absteigen oder in den Wahnsinn treiben sollte, am besten beides. Sie fällten Bäume rund um
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