Grün war die Hoffnung
letztenmal ins Meer tauchte. Diesmal stand das Pferd nicht wieder auf.
»Marco!« rief Norm. »Marco, tu doch was. Scheiße! Was ist denn das, Blut?« Er stand jetzt auf der Straße, ebenso wie der alte Mann und seine Frau, die blinzelten, als wären sie zu spät ins Kino gekommen und suchten jetzt nach ihren Plätzen. Ohne seine Brille sah Norm seltsam aus – unmenschlich, oder nein: nichtmenschlich. Er hatte ein Stück Stoff im Auto gefunden – ein zerrissenes T-Shirt von einem der Kinder – und drückte es sich gegen das Gesicht, um die Blutung zu stillen. »Scheißpferd«, murmelte er, und da lag es, auf der Seite im Graben, und es keuchte noch.
»In Ihrem Interesse, Mister, kann ich nur hoffen«, begann der alte Mann – und da war er, wie ein Stehaufmännchen tauchte er dicht neben Norm auf, blaß und verkrampft und mit Zähnen, die nicht recht in seinen Schädel zu passen schienen (geliehene Zähne, was für eine Idee!) –, »daß Sie gut versichert sind, mehr sag ich nicht.«
Als nächstes erlebte sich Marco in vollem Laufschritt. Er rannte einen knappen Kilometer die dahinströmende Asphaltstraße bis zur Abzweigung nach Drop City, vorbei an dem Zutrittsschild ( Keine Männer , las er, keine Frauen – nur Kinder ) und dann die gefurchte Schotterstraße hinauf bis zum großen Haus, das zwischen den Bäumen waberte. »Hol Hilfe!« hatte ihn Norm angeschrien. »Hol Alfredo! Hol irgendwen!« Und plötzlich rannte Marco noch schneller, warf sich in einer Art rasender Horrortrip-Panik die Straße entlang, seine Stiefelsohlen knallten erst auf den Asphalt, dann in den Staub. Irgendwen, irgend jemanden! Er flankte über einen morschen Zaun und pflügte über eine offene Wiese, weil er meinte, sich irgendwie beruhigen und das tun zu müssen, was die Menschen in solchen Situationen von einem erwarteten – die Panik abschütteln, aufwachen, Verantwortung übernehmen –, aber die Droge gestattete es ihm nicht. Sie steckte in seiner Kehle, in seinem Kopf, erdrosselte sein Herz, zerfraß seine Lunge.
Es war niemand auf der vorderen Veranda, niemand im großen Wohnzimmer. Nur die Musik war da, spielte ganz für sich, schroffe Töne, ein metallisches Krachen wie eine Marschkapelle, die eine Treppe hinunterstürzte, und wieso erkannte er die Melodie nicht? Er sah halbleer gegessene Teller auf Armlehnen herumstehen, noch feuchte Eßstäbchen ragten wie bösartige Insekten aus einem Gemenge von Reis, Bohnen und Tofu; er sah Plattenhüllen auf dem Boden herumliegen wie vom Winde verwehter Unrat, und in der hinteren Ecke, auf dem Bücherregal, drehte sich der glänzendschwarze Teich einer Schallplatte auf dem Plattenteller. Es war sehr seltsam, die Musik lebte ihr eigenes Leben in einem Haus ohne jeden menschlichen Bewohner. Wie in einer Gespenstergeschichte. Einem Märchen. Niemand zu Haus, und der Brei noch warm auf dem Tisch. Der Versammlungsraum bot einen ähnlichen Anblick. Ebenso die Küche. Er blickte auf, und da starrte vom Kühlschrank der massige Kopf des orangefarbenen Katers zu ihm herab.
Und dann, durch die Musik hindurch – wie Perlenfäden hineingewirkt –, hörte er Stimmen im Garten hinterm Haus, ein Klagen, wieder Stille, und dann flehendes Rufen, das sich wiederholte: Klagen, Stille, flehende Rufe. Er schob sich durch die Fliegentür, und da waren sie, die gesamte Sippe, versammelt um den Swimmingpool und um etwas, was aussah wie eine sehr nasse Stoffpuppe, die auf dem gefliesten Beckenrand ausgestreckt lag. Das Acid ließ ihn lange genug los, um die Szene aufzunehmen: es war eins der Kinder, eins von Rebas Kindern, und Jiminy bearbeitete seinen Brustkorb wie ein Sanitäter der Marineinfanterie in den Abendnachrichten, und alle anderen rangen die Hände und hüpften immer wieder in die grünliche Brühe des Pools hinein. Marco sah Ronnie tief Luft holen und untertauchen, dann schoß Alfredo in einem Mahlstrom von Haaren an die Oberfläche. »Was ist denn los?« wollte Marco wissen und packte den ersten bei der Hand, den er erwischte, aber er war noch so voll von Norm und dem Unfall, daß er ihn nicht erkannte, nicht sofort jedenfalls.
»Das ist Che«, antwortete Merry. Ihr Oberkörper war nackt, und sie zitterte. Sie war überall bunt bemalt, rote und blaue Schlingen liefen über ihre Gliedmaßen wie gedunsene Adern. Ihre Augen saßen nicht richtig im Kopf – sie trieben eher mehrere Zentimenter links von ihrem Gesicht umher. »Er ist ertrunken, reingefallen oder sonstwas, und wir finden
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