Grün war die Hoffnung
einfach – ich meine, keiner weiß, wo Sunshine geblieben ist!«
Ein Schrei zerriß die Luft, der Alptraum jeder Mutter. »Sunshine!« heulte Reba und zog die zweite Silbe in die Länge. »Sunshine! Komm raus, Kleines, komm wieder raus! Das ist nicht lustig!« Sie stob durch den Garten, schlug wild mit den Händen auf das vertrocknete Gestrüpp ein. Sie war fuchsteufelswild und stand kurz vor dem Siedepunkt. »Das ist kein Spiel. Komm jetzt raus, verdammt noch mal! Komm raus, hast du gehört, du kleines Biest!«
»Im Pool ist sie nicht«, sagte jemand, und in dem Chaos konnte Marco nicht sehen, wer es war.
»Der Fluß, was ist mit dem Fluß?« Er blickte auf und nahm Verbie wahr – sie saß auf dem nassen Rand des Schwimmbeckens, geweitete Pupillen, das Haar klebte ihr am Kopf. »Hat schon jemand am Fluß nachgesehen?«
Hilflosigkeit erfaßte die Menge: verlorene Blicke, aufgerissene Münder, zuckende Schultern, fuchtelnde Hände, und wie hätte man von irgendwem erwarten können, an diesem Tag so etwas anzupacken? Es war das Mittsommerfest. Sie waren total weggetreten, allesamt. Sie wollten keine Kinder retten, sie wollten Kinder sein . »Was meinst du mit dem Fluß?« fragte Merry laut.
»Ich meine eben den Fluß .« Verbie riß die Arme hoch, als hätte sie auf einer Bühne eine Kugel abbekommen. »Sie könnte ertrunken sein. Da unten, meine ich.« Bis hierhin war sie gut unterwegs gewesen, jetzt aber stockte sie. Sie sah ihre Schwester an, dann Marco. »Also, oder?«
In diesem Moment erschien Star und teilte die Menge wie eine Prophetin, rasch ging sie mit steinernem Gesichtsausdruck barfuß über die Fliesen, ihre nackten Arme und Beine steckten in einem nassen T-Shirt und nassen Shorts. Und dann bückte sie sich über Ches reglose Gestalt, räumte mit festem Griff von zwei Fingern seine Zunge aus dem Weg, hielt ihm die Nase zu und begann, ihm Leben einzuhauchen. Wiederbelebungsmaßnahmen. Junior-Lebensretter-Team. Mund-zu-Mund-Beatmung . Auch ihm fiel das alles sofort wieder ein, aber er konnte nur zusehen, die Arme hingen ihm herab wie angeklammert, und er empfand nichts als Ehrfurcht. Er sah zu, wie Stars Knie sich in die Steinplatten rammten, sah sie auf den nackten Fußristen das Gleichgewicht halten. Und ihr Haar. Es war ein Wunder, breitete sich über Kopf und Körper des Kindes wie ein Sauerstoffzelt, jede Strähne ein Finger, und jeder Finger lockte zurück ins Leben.
Die Leute klopften jetzt die Büsche ab, riefen Sunshines Namen, als wäre es das einzige Wort ihrer Sprache, während Norm draußen auf der Landstraße blutete wie ein Vieh, der Sheriff unterwegs und die Bürgerwehr unter Waffen war, aber dennoch unternahm Marco nichts. Er betrachtete Stars Haar, sah zu, wie ihr Mund sich um den des Jungen schloß. Sich schloß und wieder abhob, sich schloß und wieder abhob. Ein Jahr verging. Ein Jahrzehnt. Und dann strampelte Che plötzlich mit dem linken Bein, und Marco war erlöst. Im nächsten Augenblick rannte er wieder los, erzeugte einen ganz eigenen Fahrtwind, seine verschwitzten Haare schlenkerten ihm um den Kopf, und die muskulösen Beine kämpften mit der Böschung, durch Eibe, Lorbeer und Spitzkiefer hinunter ans Ufer, wo der Fluß den Himmel spiegelte. Er rief ihn jetzt auch, sprach den Namen aus, den alle anderen im Munde führten, ja, unwillkürlich schrie er ihn, bis seine Lunge brannte und ihm der Mund trocken wurde: »Sunshine! Sunshine!«
Keine Antwort. Er nahm den Weg oben am Ufer entlang, sah angestrengt in den Fluß, aber das Wasser war trübe und hier auch sehr tief, wo das Bett sich um eine plätschernde Biegung wand. Das Wasser sprach zu ihm, beruhigte ihn jedoch nicht. Vögel zwitscherten. Der Himmel hob ab und klatschte wieder runter. Was hatte er denn zu sehen erwartet – einen bleichen Arm, der ihm aus dem Geröll des Flußbetts zuwinkte? Einen gespenstischen Leichnam, der zwei Meter tief in einem Felsspalt klemmte? »Sunshine!« rief er. »Sunshine!«
Er rief immer noch, als er sie fand. Er rief zwar, aber sie antwortete nicht. Sie hockte unter einem ausladenden Strauch voller Beeren, eine rote Saftspur verlief über ihre Wange und überzeichnete ihren Mund, so daß sie wie ein Clown aussah. Ihre rotgefärbten Hände nestelten in ihrem Schoß. Sie trug ein schmutzigweißes Kleid, keine Schuhe, Perlenbänder um Hals und Handgelenke, und das Haar war zu zwei unordentlichen Zöpfen geflochten, in denen Laub und kleine Zweige klebten. »Sunshine«, sagte er, nur um
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