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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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sie versucht, nach Hause zu gelangen. Sie war eine Woche im Wasser gewesen und hatte in dieser Zeit von der vermuteten Unfallstelle bis hierher dreißig Kilometer zurückgelegt. Tiere hatten an ihr gefressen. Und dass Rita sie oder vielmehr das, was von ihr übrig war, hatte ansehen müssen, als der Gerichtsmediziner das weiße Tuch über ihrem Gesicht und den Schultern zurückgeschlagen und das schmutzige, verfilzte Seegras, das ihr Haar gewesen war, und das Fleisch, das kein Fleisch mehr war, den Blicken preisgegeben hatte, war ihr wie ein Verbrechen erschienen, so unerträglich und so falsch, dass sie geglaubt hatte, sie würde diesen Ort nicht mehr verlassen können, sondern dort, auf den Fliesen dieses kalten, kalten Raums, sterben. Die übrigen – Dave, Wilson, die andere Frau – wurden nie gefunden. Sie blieben spurlos verschwunden. Ebenso das Boot, bis auf ein paar angeschwemmte Wrackteile. Und was haben sie ihr gesagt? Sie haben gesagt, da unten liegt alles voller Boote.
    Ihre Beine tragen sie am Bachbett entlang hinauf, immer höher und höher, bis die Ufer näher zusammenrücken und ein Rinnsal zwischen den Steinen dahinrinnt, als wollte es sich verstecken. Weiter oben, am anderen Ufer, gibt es einen kleinen Hain, wo einer der hundert kleinen Zuläufe, die den Bach im Winter speisen, sich seinen Weg in den Canyon gräbt, und ihr wird bewusst, dass das ihr Ziel ist. Dort ist Frieden, das weiß sie, und obwohl sich im Lauf der Jahre einiges verändert hat – Bäume sind gewachsen und umgefallen, Klippen sind geborsten und wohnwagengroße Felsen zu Tal gestürzt –, glaubt sie, die Stelle finden zu können. Außerdem hat sie Beine, und die Beine kennen den Weg.
    Sie ist verschwitzt, ihre Unterwäsche ist ganz nass, als sie dort ankommt, und ihr Atem ist auch nicht mehr das, was er mal war. Aber der Ort – eine hochgelegene Sickerstelle, die Schafe kamen gern her, um an den Felsen zu lecken, sowohl wegen des Wassers als auch wegen der Salze – sieht ziemlich genau so aus, wie sie ihn in Erinnerung hat: ein paar Eichen, die jetzt größer sind als damals, so dick, wie ihre Schultern breit sind, und das sacht rieselnde Wasser, das über den Fels und in den beschatteten Tümpel rinnt, auf dem Wasserläufer und andere Insekten tanzen, die kleineren, die Ruderwanzen. Die Ruderwanzen sind auch da. Und ein einzelner Frosch, der, während blauschillernde Libellen über der Oberfläche schweben, mit einem leisen, wohltönenden Plumps verschwindet.
    Die Asche ist in einem Metallkanister mit Schraubverschluss, nicht in einer Urne. Jedenfalls ist es keine Urne aus Ton – das ist das Material, an das sie bei dem Wort »Urne« denkt, einem Wort, in dem etwas von Alter und Beständigkeit mitschwingt. Aber dies ist keine Urne, sondern ein Kanister. Sie setzt sich an den schattigen Tümpel, der nicht größer ist als ein Waschzuber, holt den Kanister aus dem Rucksack hervor und stellt ihn neben sich. Dann nimmt sie die Gitarre von der Schulter auf den Schoß und schlägt ein paar Akkorde. Sie hält inne, um das Instrument zu stimmen. Der erste Song ist einer, den sie immer mit Toby gesungen hat, ein Blues in e-Moll, so traurig, dass sie die Worte kaum herausbringt, und dann finden ihre Finger die Griffe für »Somewhere Over the Rainbow«, ein Lied, das sie, als Anise ein kleines Mädchen war, immer wieder spielen musste. »Über dem Regenbogen?« hat sie gefragt. »Wo ist das, Ma?« Sie singt die Lieder für Anise, nur für Anise, Lieder von anderen, die zu ihren eigenen geworden sind, und Lieder, die sie selbst geschrieben hat. Die Lieder. Die Sonne. Die Insel. Sie wird die Asche erst verstreuen, wenn es dunkel wird, wenn alle wieder auf das Boot gestiegen und weggefahren sind, wenn die einzigen Geräusche die Geräusche der Nacht sind.
    Irgendwo ist ein Fuchs, und seine Augen stehlen das Licht. Er ist keiner von denen, die sich haben einsperren und ein Halsband verpassen lassen. Er ist ein Überlebender, ein Kämpfer. Bei einem längst vergessenen Revierkampf hat seine Schnauze eine Wunde davongetragen, die verheilt, wieder aufgebrochen und abermals verheilt ist. Es regt sich etwas im nächtlichen Gras: Grillen sind unterwegs, Skorpione, Dinge, die Lebenssaft in sich tragen. Er lauscht aufmerksam. Und irgendwo im tiefsten Schatten des stoppeligen gelben Grases bewegt sich noch etwas anderes, etwas, das langsam und zielsicher vorangleitet und über rauhe Schuppen und bewegliche Wirbel verfügt – ein Kolonist, ein

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