Gruene Armee Fraktion
den Tunnel führten. Dort kniete er kurz nieder, um eine Schiene zu inspizieren, und als er aus dem Halbdunkel wiederauftauchte, hatte er eine dekorative Prise von dunklem Staub auf der Stirn.
Mondrian fragte sich, ob Bussung sich absichtlich so geschminkt hatte, denn kurz danach steuerte der Staatssekretär mit energischen Schritten auf ein kleines Podium zu. Die improvisierte Empore hatten seine Berliner Assistenten aus Metallkisten errichten lassen, ein Stück vor dem Halbrund des Tunnels, ein idealer Hintergrund. Sie winkten ihn eilig heran, die beste Sendezeit nahte. Wirklich perfekt, dachte Mondrian mit einer Mischung aus Staunen und Bewunderung. Prime time. Breaking news.
»Meine Damen und Herren.«
Fester Blick über ein Dutzend Mikrofone in die surrenden Fernsehkameras.
»Ich bin beauftragt, allen Betroffenen dieser Katastrophe das tief empfundene Beileid der Bundesregierung auszusprechen. Und ich bin hierhergeschickt worden, um mich an Ort und Stelle über diese unfassbare Tat zu informieren.«
Kein Blinzeln, mochten die Scheinwerfer noch so blenden.
»Inzwischen sind siebzehn Tote und mehr als fünfzig Verletzte zu beklagen, wie mir die Rettungskräfte mitgeteilt haben. Das sind vorläufige Zahlen. Über ein Dutzend Menschen schweben noch in Lebensgefahr. Das Leid der Opfer und Hinterbliebenen verbietet es, über die materiellen Schäden dieses feigen Anschlags zu sprechen. Aber schon jetzt steht fest, dass er mit nie da gewesener Brutalität ausgeführt worden ist.«
Bussung wartete einen Moment und wischte sich über die Stirn, die durch den Staubfleck besonders düster aussah.
»Aber ich bin nicht nur hergekommen, um mir vor Ort selbst ein Bild vom Ausmaß dieses Verbrechens zu machen. Ich habe Sie auch darüber zu unterrichten, dass ein Bekennerschreiben im Bundesministerium des Inneren eingegangen ist.«
Er zog ein Papier aus seiner Anzugtasche und faltete es auseinander.
»Der Text der E-Mail lautet wie folgt: ›Heute haben wir die Deutsche Bahn angegriffen und einen ICE ausrangiert. Das ist unsere Antwort auf Stuttgart 21 und die wahnsinnige Verkehrspolitik. Die Bahn will Milliarden mit einem Projekt machen, das Bäume abholzt, einen Park vernichtet und eine ganze Stadt den Immobilienhaien vorwirft. Sie fährt mit Atomstrom, und sie transportiert immer noch Atommüll. Die Castor-Behälter rollen weiter über ihre Gleise. Stoppt endlich diese mörderische Technik und alle Megaprojekte! Stoppt alles, was die Natur zerstört! Grüne Armee Fraktion, Kommando S21, Zug um Zug‹.«
Bussung presste die Lippen zusammen und blickte von dem Blatt hoch.
»Wie Sie merken, meine Damen und Herren, fällt es mir schwer, dieses Pamphlet überhaupt wiederzugeben. Der Wortlaut des Schreibens ist an falschen Behauptungen und an menschenverachtendem Zynismus nicht zu überbieten. Auch wenn die Ursachen der ICE-Entgleisung zu dieser Stunde noch nicht endgültig geklärt sind, müssen wir davon ausgehen, dass es sich um einen politisch motivierten Anschlag handelt, der einen ökologischen Hintergrund hat …«
»Aber warum denn gerade auf die Bahn?«, rief eine aufgeregte TV-Journalistin dazwischen, noch bevor Bussungs Pressesprecher das Signal zu Fragen geben konnte. »Die gilt doch gerade als umweltfreundlich!«
»Das müssen Sie die Leute fragen, die dieses Pamphlet geschrieben haben«, antwortete der Staatssekretär, »es gibt ja keinen Zweifel, dass die Bahn besonders umweltschonend fährt, und zum Abtransport von ausgedienten Kernbrennstoffen ist sie vertraglich verpflichtet, in unser aller Interesse …«
»Und was bedeutet der Angriff auf Stuttgart 21 Ihrer Meinung nach?«, unterbrach ein Radioreporter, der sein Aufnahmegerät zwischen die TV-Mikrofone schob.
»Einfach absurd. Hier werden völlig sachfremde Vorwürfe gegen ein Vorhaben erhoben, das von den zuständigen Gremien beschlossen ist. Wie Sie wissen, hat es außerdem ein Schlichtungsverfahren und einen Stresstest gegeben, bei dem alle Interessen berücksichtigt wurden. Das alles beweist bloß, dass wir es mit ideologisch verblendeten Tätern zu tun haben. Es handelt sich offenbar um eine Gruppierung, die unter dem Deckmantel des Umweltschutzes ohne jeden Skrupel Menschen umbringt …«
»Wie schon den Atomingenieur in Geesthacht?«, rief ein anderer Journalist von hinten. »Gehen Sie von einem Zusammenhang der Attentate aus?«
»Die Bekennerbriefe scheinen jedenfalls von derselben Gruppe zu stammen. Nur dass die heutige Botschaft
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