Gruene Armee Fraktion
geht.
13
X-tausendmal quer, Wendland
Das erste X tauchte vierundzwanzig Kilometer vor Dannenberg auf. Zwei meterhohe gekreuzte Balken waren an eine Kiefer genagelt, knallgelb, direkt neben der Straße. Dahinter führte die B216 durch einen schattigen Mischwald und dann an sanft gewellten Getreideäckern vorbei; durch das geöffnete Autofenster strömte Luft, die nach Gräsern und Sommer roch.
Drüben, an einer Scheune, wieder das gelbe Zeichen.
Und noch eins, quer über die Fahrbahn gestrichen.
Mondrian kniff die Augen zusammen und setzte die Sonnenbrille auf; die Mittagssonne stand jetzt schon so hoch über dem niedersächsischen Landstrich, dass ihn die hellen Kornfelder blendeten. Wohin er auch schaute, sah er Halme, die der Wind streichelte und wogen ließ wie ein ockerfarbenes Meer.
Kurz vor der Einfahrt zum Dorf Jameln entdeckte er ein weiteres Lattenkreuz. Neben einer grotesk verrenkten grünen Puppe war eine Parade von kaputten Traktorreifen aufgebaut. An dem Schild daneben stand: »Für achtzigtausend Mark Reifen zerstochen – wir machen den Weg frei für den Castor – Ihre Bereitschaftspolizei«. Nicht weit davon an einem Feldschober, mit Totenschädel garniert, die Parole »Atomkraft TÖTET«. Daneben wieder zwei X-Zeichen.
Das Symbol für den Widerstand im Wendland. Für den Kampf gegen den nächsten Castor-Transport, wann auch immer: am Tag X.
Die gekreuzten gelben Balken waren zum Logo einer Bewegung geworden, die seit über dreißig Jahren gegen die Atomenergie und das geplante Endlager in Gorleben zu Felde zog. Hatte nach der Katastrophe in Japan jemand ein Fanal setzen wollen? Ein endgültiges Stoppsignal für alle Nuklearprojekte? Bedeutete das X in den Baumstämmen, dass eine Gruppe von hier hinter den Attentaten stand?
Gleich nach der Rückkehr vom Landrückentunnel hatte Mondrian einen Vertrauten aus dem Dorf Metzingen angerufen, einer Hochburg des Widerstands, den er in einem Protest-Camp kennengelernt hatte. Arne Stöver hatte damals gerade seinen Job als Sozialarbeiter bei einer Drogenberatung verloren, weil er sich weigerte, Unterlagen über Süchtige an die Polizei herauszugeben. Mondrian war mit ihm in Verbindung geblieben: Stöver versorgte ihn mit Neuigkeiten aus Anti-Atomkraft-Gruppen, er selbst gab ihm Einblick in vertrauliche Behördenunterlagen über die absaufende Nukleardeponie Asse. Daraus war keine Freundschaft geworden, aber ein lockeres Du.
Jetzt hatte Mondrian ihn nach Kontakten in der Szene gefragt. Er wollte selbst in der Bewegung recherchieren, deren Symbol neben Leichen und Trümmern gefunden worden war.
»Denkst du etwa, dass jemand von hier etwas damit zu tun hat?« Stövers ungläubiges Staunen war selbst am Telefon zu spüren gewesen.
Mondrian hatte ihm die Kerben in den Bäumen verschwiegen.
Nach einem Moment der Stille hatte Stöver gesagt: »Wenn du wissen willst, wie die Leute jetzt hier ticken, fahr zu Fritz und Maria. Zu ihrem Hof hinter Dannenberg.«
»Fünfzehn Kilometer bis zum Ziel«, zeigte das Navigationsgerät an. Die Straße war frei, aber Mondrian nahm Gas weg. Er wollte es noch eine Weile genießen, durch die Ebene des Wendlands zu gleiten. Man konnte die Nähe der Elbe fast riechen und die Schwere der Erde spüren. Gut, es gab aufregendere Landschaften in Deutschland. Gezackte Gipfel um den Watzmann. Den Schwarzwald mit seinen geheimnisvollen Schluchten. Die bizarren Kreidefelsen auf Rügen, Caspar David Friedrich lässt grüßen. Aber Mondrian sehnte sich jetzt nach ruhigeren Linien. Die stur geraden Feldwege durch braunen Boden, die unaufgeregten Dörfer, das waren Tranquilizer für seine Seele, einen Tag nach dem Beben im ICE-Tunnel. Und selbst die Nachrichten im Radio hörten sich einen Moment so an, als seien sie ganz irreal.
»… Trauer um die Opfer des Anschlags …«
»… noch zahlreiche Verletzte in den Krankenhäusern …«
»… Ermittlungen auf Hochtouren …«
Nur zwei Radfahrer begegneten ihm auf der Strecke. Er bog auf eine schmale Straße zum Weiler Meuchefitz ein und steuerte auf die wuchtige Kirche zu, deren Friedhof von Mauern aus Feldsteinen umgrenzt war. An einem alten Gasthof hing ein Transparent mit der Aufschrift »Die Sphäre der Politik ist der Wahrheit Grab«. Er fragte nach dem Weg zu Fritz und Maria und folgte der Dorfstraße, an grasenden Schafen vorbei, zu einer Einfahrt mit grobem Pflaster. Als er den Motor ausstellte, hörte er leise John Lennon.
»Imagine there’s no heaven,
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