Gruene Armee Fraktion
als hätten sie Angst, sich zu verlieren. Entdeckte eine weinende Frau, die von ihrem bewusstlosen Kind weggezogen wurde, weil es für eine Notoperation vorbereitet werden musste. Hörte Mütter und Väter mit Panik in der Stimme nach ihren vermissten Kindern rufen und sah, wie Seelsorger und Psychologen wimmernde Erwachsene wortlos in den Arm nahmen und an sich drückten. Und er wunderte sich, wie seltsam unberührt er dabei blieb.
Du bist schon ein komischer Kerl, Jonas Mondrian, grübelte er wieder einmal. Bewegst dich hier unbeteiligt wie ein Roboter, während neben dir Welten einstürzen. Funktionierst wie ein automatischer Rekorder, der anspringt und dann einfach läuft. Schon beim Amoklauf in einer Schule war das so gewesen, als er neben schluchzenden Schülern stoisch seine Notizen gemacht hatte. Oder bei der Bergung erfrorener Alpinisten im Himalaja, die er mit kaltem Kopf verfolgt hatte, Stift und Block in der klammen Hand.
In seiner Branche hieß das »professionelle Distanz«. Vielleicht brauchte man so etwas bei dieser Arbeit, aber Mondrian fand nicht, dass man stolz darauf sein konnte. Und er wusste, dass die weichen Knie noch kommen würden. Stunden oder Tage später. Wie damals nach seinem Einsatz bei einer Massenkarambolage auf einer bayerischen Autobahn mit Dutzenden von Zerfetzten oder nach der Lawinenkatastrophe im verschütteten Galtür: wenn der Schock abebbte und einem inneren Zittern wich. Und manchmal musste der sonst so coole Reporter sogar Tränen unterdrücken. Ja, bei der Beerdigung eines vergewaltigten und ermordeten Mädchens im niedersächsischen Strücklingen hatte er zwischen Hunderten von Trauernden selbst feuchte Augen bekommen. Hinterher hatte er eine Stunde Miles Davis in seinem Auto gehört, »Kind of Blue«.
Verrückte Gefühle. Als müsste sich das Entsetzen bei ihm erst mal durch einen Panzer arbeiten. Als könne er Schmerz und Mitleid erst zulassen, wenn ein innerer Wächter schlief. Vielleicht sollte er mal mit einem Psychologen darüber reden. Endlich mit jemandem darüber sprechen, was da in ihm begraben schien, schon seit Jahren. Aber dazu bist du wohl zu feige, gestand er sich ein. Er fuhr sich durch die Haare an den Schläfen, um die Gedanken zu verscheuchen: Jetzt mach deinen Job, verdammt noch mal.
Entschlossen trat er in ein Zelt, das abseits von den anderen stand und ihm schon vor einer Weile aufgefallen war. Er hatte beobachtet, wie Helfer abgedeckte Körper hineintransportierten, die mit schwarzen Triagekarten gekennzeichnet waren. Dort, vermutete er, musste die Sammelstelle für Tote sein.
»Wie viele bisher?«, fragte er den Sanitäter, nachdem er eine Art Schleuse passiert hatte. Im Halbdunkel stand eine Reihe von Tragen.
»Vierzehn«, sagte der junge Mann mit Pennälergesicht, der an einem Klapptisch Formulare ausfüllte und nur kurz zu Mondrian aufblickte. Er hatte offenbar keinen Zweifel, dass der Mann im weißen Overall vor ihm ein Polizist war.
»Schon identifiziert?« Mondrian versuchte, einen amtlichen Ton in seine Stimme zu legen.
»Die meisten«, antwortete der Sanitäter bereitwillig und gab einen Befehl in seinen Laptop ein. Mit einem Surren kroch eine Liste aus dem Drucker. »Hier sind die Namen und Adressen, soweit bisher bekannt.«
Mondrian nickte nur kurz und verließ mit dem Papier eilig das Zelt, als sein Handy zu summen anfing. Draußen ging er ein Stück zur Seite und drückte die grüne Taste.
»Himmel noch mal, wir versuchen dich seit Stunden zu erreichen.« Marc Rolfes klang genervt. »Wo hast du bloß gesteckt?«
»In einem Funkloch«, sagte Mondrian knapp. Er hatte jetzt keine Lust, sich Vorhaltungen machen zu lassen.
»Was soll das heißen, in einem Funkloch?«, echote Rolfes unwirsch.
»Einen Kilometer tief in einem Tunnel.«
»Etwa dort, wo der Anschlag auf den Zug passiert ist?«
»Genau.« Mondrian machte eine Pause, um das sacken zu lassen. »Ziemlich schlechter Empfang da drinnen«, schickte er dann hinterher.
»Und, wie sieht es da aus?«, fragte Rolfes ungeduldig.
»Schlimmer, als du dir vorstellen kannst.« Mondrian brauchte ein paar Augenblicke, um die richtigen Begriffe in seinem Kopf zusammenzusuchen. »Wie eine Mischung aus Eschede und Nine Eleven. Als wäre in diesem verdammten Tunnel eine Bombe explodiert.«
»Die Nachrichtenagenturen sprechen von über einem Dutzend Toten«, sagte der Cop, »die Namen müssen wir uns schnellstens besorgen.«
»Schon passiert«, sagte Mondrian. »Samt
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