Grünes Gift
und dem Ausbruch der Grippe vergangen war - sie wußte es einfach nicht. Er hatte nur erzählt, daß er eine Vorlesung verlassen hatte, weil es ihm plötzlich so schlecht gegangen war. Aber sie wußte nicht welche Vorlesung. Sie ging zurück zur Tür und versuchte den Knauf zu drehen. Doch die Tür war verschlossen, vor einer guten Stunde, nachdem man sie hierher gebracht hatte, war sie von außen verriegelt worden. Sie drehte sich um, lehnte sich gegen die Tür und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Er hatte hohe Decken und wirkte recht geräumig, aber außer dem Bett gab es kein einziges Möbelstück, und auch das Bett war nur ein einfaches Klappgestell, auf dem eine Matratze lag. Das kurze Nickerchen hatte sie wieder etwas munterer gemacht. Sie war ziemlich frustriert, gleichzeitig aber auch wütend. Sie überlegte kurz, ob sie sich wieder auf das Bett legen sollte. Da sie jedoch kein bißchen müde war, ging sie wieder ans Fenster.
Das Fenster ließ sich problemlos aufschieben. Sie lehnte sich hinaus und warf einen Blick hinunter. Etwa sieben Meter unter ihr befand sich ein gefliester Gang, der die hintere Terrasse mit der vorderen verband und von einer Kalkstein-Balustrade gesäumt war. Wenn sie hinunterspringen würde, grübelte sie, würde sie ziemlich hart landen, aber sie zog den Gedanken ernsthaft in Erwägung. Lieber wollte sie sterben als eine von den anderen zu werden. Das Problem war nur, daß ein Sprung aus dieser Höhe sie wahrscheinlich nicht töten, sondern nur verletzen würde.
Sie hob den Kopf und betrachtete einen Baum etwas genauer, wobei ihr ein kräftiger Ast ins Auge fiel. Er strebte zunächst direkt auf das Fenster zu und krümmte sich dann nach rechts. Ob sie es schaffte, vom Fenster in den Baum zu springen? Sie mußte den Ast zu fassen bekommen, der etwa zwei Meter vor dem Fenster endete. Konnte das überhaupt gutgehen? Noch nie im Leben hatte sie etwas Ähnliches gewagt. Vielleicht schaffte sie den Sprung tatsächlich; immerhin hatte sie im letzten Jahr, bestärkt durch Beau, fleißig mit ihren Hanteln trainiert. Und wenn sie den Ast verfehlte? Ihre augenblickliche Lage war fatal. Auf die harte Balustrade zu krachen, erschien ihr im Moment auch nicht schlimmer, als tatenlos hier auszuharren. Vielleicht würde sie den Sturz auch gar nicht überleben. Sie kletterte auf die Fensterbank und schob das Fenster so weit wie möglich auf. Die Öffnung maß etwa zwei mal zwei Meter. Auf dem Sims stehend, bekam sie weiche Knie. Sie schloß die Augen. Ihr Herz jagte, und sie atmete sehr schnell. Sie erinnerte sich an eine Szene aus ihrer Kindheit. Sie war im Zirkus und sah ein paar Artisten im Trapez turnen. Nie und nimmer würde sie einen derart akrobatischen Sprung wagen. Doch dann dachte sie wieder an Eugene und Jesse und an den mutierenden Beau. Demnächst die eigene Identität zu verlieren, war eine grausame Vorstellung.
Plötzlich faßte sie sich ein Herz. Entschlossen öffnete sie die Augen und sprang.
Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie den Baum berührte. Vielleicht hatte sie Instinkte, von denen sie noch gar nichts wußte - jedenfalls hatte sie den Abstand perfekt geschätzt. Sie landete mit ihren Händen an dem Ast und rutschte auch nicht ab. Die Frage war nur, ob sie es schaffte, sich weiter festzuhalten, denn ihre Beine schwangen heftig hin und her. Ein paar Sekunden lang befürchtete sie, dafür nicht genügend Kraft zu haben, doch dann pendelten ihre Beine allmählich aus. Sie hatte es geschafft! Doch ihre akrobatische Übung war noch keinesfalls beendet.
Unter Zuhilfenahme ihrer Beine gelang es ihr, sich an dem Ast entlangzuhangeln, bis sie eine Stelle erreichte, an der sie ihren rechten Fuß auf einen niedrigen, kleineren Ast setzen konnte. Von da an schaffte sie es problemlos, den Baum hinunterzuklettern und schließlich auf den Rasen zu springen. Sie gönnte sich keine Verschnaufpause. Da sie wußte, daß sie keine Aufmerksamkeit erregen durfte, widerstand sie der Versuchung, über den Rasen zu laufen und so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Vielmehr zwang sie sich, nachdem sie die niedrige Balustrade überwunden hatte, normal und locker zu wirken. Sie ging den gefliesten Gang entlang bis zur Frontseite des Hauses.
Dort mischte sie sich unter die unzähligen Infizierten, die die Auffahrt bevölkerten. Um nicht aufzufallen, ging sie im normalen Schrittempo, setzte ein breites Grinsen auf und achtete darauf, ausdruckslos nach vorne zu starren. Sie hatte
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