Grünes Gift
Schüler ins Visier nahm. »Ich wette, er schafft es.«
»Ich finde nicht, daß man so ein Verhalten dulden sollte«, platzte Cassy heraus. Sie war außer sich.
»Wieso denn nicht?« entgegnete Mr. Partridge. Er hob seine Hände an den Mund und rief Jason zu: »Kletter weiter, Junge! Gib nicht auf! Du hast es fast geschafft.« Jason sah nach oben. Bis zur Spitze waren es noch gut sechs Meter. Als er hörte, wie die Schüler ihn anfeuerten, kletterte er weiter. Das Problem war, daß seine Hände feucht waren. Jedesmal, wenn er sich ein Stück hochgezogen hatte, rutschte er die Hälfte der erklommenen Strecke wieder herunter. »Mr. Partridge«, begann Cassy. »Das ist doch…«
»Beruhigen Sie sich, Miss Winthrope«, unterbrach sie der Schulleiter. »Wir müssen den Schülern auch mal erlauben, sich auszutoben. Außerdem ist es doch interessant mitzuverfolgen, ob ein pubertärer Junge wie Jason imstande ist, eine solche Mutprobe zu bestehen.«
Cassy sah nach oben. Der Mast wackelt immer stärker. Sie dachte mit Schaudern daran, was passieren würde, wenn der Junge abstürzte. Doch Jason fiel nicht. Von den motivierenden Rufen seiner Mitschüler angespornt, schaffte er es: Er zog sich bis zur Spitze hoch, berührte kurz den Adler und ließ sich dann langsam wieder hinuntergleiten. Als er den Boden erreichte, war Mr. Partridge der erste, der ihn beglückwünschte. »Ausgezeichnet, mein Junge«, sagte er und klopfte Jason auf die Schulter. »Ich hätte nicht gedacht, daß du es schaffst.« An die anderen Schüler gewandt fügte er hinzu: »Okay, Kinder, jetzt ist aber Schluß.«
Cassy blieb noch eine Weile stehen und beobachtete, wie Mr. Partridge zusammen mit einer großen Gruppe von Schülern auf den Hauptflügel zuging und sich angeregt mit ihnen unterhielt. Sie waren total verwirrt. Den Jungen aufzumuntern, diese gefährliche Mutprobe zu Ende zu bringen, war absolut unverantwortlich gewesen. Mit Sicherheit war dieses Verhalten für Mr. Partridge völlig untypisch.
»Ich glaube, das ist Ihre Tasche«, hörte sie plötzlich jemand sagen.
Sie drehte sich um. Vor ihr stand Jonathan Seilers und reichte ihr ihre Mappe. Sie nahm sie und bedankte sich. »Gern geschehen«, entgegnete er. Er sah ebenfalls dem weggehenden Mr. Partridge nach und dachte das gleiche wie Cassy. »Er ist wie verwandelt.«
»Meine Eltern kommen mir ganz anders vor«, sagte jemand hinter ihnen.
Jonathan drehte sich um und war überrascht, Candee zu sehen. Er hatte nicht gesehen, daß sie Jasons Kletterpartie ebenfalls mitverfolgt hatte. Stotternd stellte er sie Cassy vor, dabei fielen ihm ihre geröteten Augen auf. Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen.«
»Ist mit dir alles okay?« fragte er.
Candee nickte. »Mit mir ist alles in Ordnung. Ich habe nur nicht viel geschlafen.« Dann warf sie Cassy einen flüchtigen Blick zu. Sie war ein wenig unsicher, ob sie ihre Probleme vor einer Fremden ausbreiten sollte, doch gleichzeitig hatte sie das dringende Bedürfnis, sich ihre Sorgen von der Seele zu reden. Da sie ein Einzelkind war, hatte sie noch mit niemandem gesprochen.
»Und warum nicht?« fragte Jonathan.
»Weil meine Eltern auf einmal so seltsam sind«, erwiderte sie. »Es kommt mir beinahe so vor, als würde ich sie nicht mehr wiedererkennen. Sie haben sich total verändert.«
»Inwiefern haben sie sich verändert?« schaltete sich Cassy ein. Sie mußte sofort an Beau denken.
»Sie sind eben anders als sonst«, erklärte Candee. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Sie sind wie verwandelt. Genau wie unser alter Mr. Partridge.«
»Seit wann sind sie denn so?« fragte Cassy verblüfft. Was war nur mit den Leuten los? »Seit gestern, glaube ich«, erwiderte Candee.
Kapitel 9
16.15 Uhr
S oll ich Ihnen Phenoytoin geben?« rief Dr. Draper Dr. Sheila Miller zu. Dr. Draper war auf der Notfallstation der Universitätsklinik einer der dienstälteren Assistenzärzte. »Nein!« fuhr Sheila ihn an. »Ich will auf keinen Fall riskieren, daß er jetzt auch noch Herzrhythmusstörungen bekommt. Ziehen Sie mir eine Spritze mit zehn Milligramm Valium auf. Die Atemwege haben wir ja frei.«
Kurz zuvor hatte der städtische Rettungsdienst telefonisch die Einlieferung eines zweiundvierzigjährigen Diabetikers angekündigt, der unter schwersten Anfällen litt. Da sich alle noch bestens an die mit heftigen Krämpfen eingelieferte Diabetikerin vom Vortag erinnerten, war bei diesem neuen Notfall das gesamte Team der
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