Grünes Gift
hatte sie sehr mitgenommen. Er hinterließ eine Frau mit zwei Töchtern im Teenageralter. Als sie das Gebäude betrat, überlegte Nancy, was sie wohl erwarten würde. Ob der tägliche Betrieb nach dem tragischen Tod vom Vortag beeinträchtigt war? Für den Nachmittag war ein Gedenkgottesdienst angesetzt. Doch wie sie dann feststellte, war bereits wieder der normale Alltag eingekehrt. Die Buchhaltung befand sich in der dritten Etage. In dem Fahrstuhl, mit dem sie nach oben fuhr, unterhielten die Leute sich ganz normal miteinander. Manche lachten sogar. Im ersten Augenblick war Nancy froh, daß die Mitarbeiter offenbar so leicht mit dem tragischen Unglück fertiggeworden waren. Doch als auf einmal alle um sie herum über eine Bemerkung lachten, die sie nicht richtig verstanden hatte, begann sie sich unwohl zu fühlen. Die Fröhlichkeit erschien ihr auf einmal regelrecht pietätlos. Sie fand Joy Taylor ohne Probleme. Als eine der langjährigen Mitarbeiterinnen hatte sie ein eigenes Büro. Sie arbeitete an ihrem Computer, als Nancy durch die offene Tür trat. Joy sah genauso aus, wie Nancy sie in Erinnerung hatte: Eine unscheinbare Frau, etwa so groß wie sie selbst, jedoch viel dünner. Nancy vermutete, daß Candee wohl eher nach ihrem Vater geraten war.
»Entschuldigen Sie bitte«, machte Nancy sich bemerkbar. Joy sah auf. Ihr verhärmtes Gesicht verriet, daß sie eigentlich nicht gestört werden wollte, doch dann setzte sie eine freundlichere Miene auf und lächelte sogar.
»Hallo«, sagte Joy. »Wie geht es Ihnen?«
»Ganz gut«, erwiderte Nancy. »Ich war mir nicht sicher, ob Sie sich an mich erinnern. Ich bin Nancy Seilers. Mein Sohn Jonathan und Ihre Tochter Candee gehen in dieselbe Klasse.«
»Aber natürlich kenne ich Sie«, sagte Joy freundlich. »Furchtbar, was gestern passiert ist, nicht wahr?« bemerkte Nancy und überlegte, wie sie zu ihrem eigentlichen Anliegen überleiten sollte.
»Ja und nein«, erwiderte Joy. »Für die Familie ist es sicher schlimm, aber zufällig weiß ich, daß Mr. Kalinov ein schweres Nierenleiden hatte.«
»Ach ja?« fragte Nancy. Die Bemerkung verwirrte sie. »Ja«, entgegnete Joy. »Er mußte einmal wöchentlich zur Dialyse, und das schon seit Jahren. Es war sogar schon von einer Transplantation die Rede. Er hatte einfach schlechte Gene. Sein Bruder hatte die gleiche Krankheit.«
»Von seinen gesundheitlichen Problemen hatte ich noch gar nichts gehört«, sagte Nancy.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« fragte Joy. »Ja«, erwiderte Nancy und setzte sich. »Ich möchte mit Ihnen reden. Wahrscheinlich ist es nichts Ernstes. Trotzdem dachte ich, ich sollte Sie mal darauf ansprechen. Das würde ich auch von Ihnen erwarten, wenn Jonathan Sie um Hilfe gebeten hätte.«
»Candee hat Sie um Hilfe gebeten?« fragte Joy. »Wieso denn das?«
»Sie macht sich Sorgen«, erwiderte Nancy. »Und offen gestanden - ich auch.«
Nancy registrierte, daß sich Joys Gesichtszüge verhärteten. »Was hat Candee gesagt?« fragte sie. »Warum macht sie sich Sorgen?«
»Sie hat das Gefühl, daß sich bei Ihnen zu Hause in letzter Zeit einiges verändert hat«, erwiderte Nancy. »Zum einen findet sie es seltsam, daß bei Ihnen plötzlich so viele fremde Leute ein- und ausgehen. Das macht ihr angst, denn manche von Ihren Gästen sind offenbar sogar in ihr Zimmer eingedrungen.«
»Wir hatten wirklich in letzter Zeit ein paar Gäste«, erklärte Joy. »Mein Mann und ich engagieren uns seit neuestem sehr stark für die Umwelt. Das erfordert zwar jede Menge Einsatz und Hingabe, doch davon lassen wir uns nicht abschrecken. Vielleicht haben Sie Lust, heute abend zu unserer Versammlung zu kommen.«
»Heute nicht«, entgegnete Nancy. »Vielleicht ein anderes Mal.«
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie Zeit haben«, sagte Joy. »Jetzt muß ich aber wieder an die Arbeit.«
»Einen Augenblick noch«, ließ Nancy nicht locker. Die Unterhaltung schleppte sich mühsam dahin. Obwohl Nancy sich bemühte, diplomatisch vorzugehen, war Joy nicht gerade entgegenkommend. Es war an der Zeit, Klartext zu reden. »Mein Sohn und Ihre Tochter hatten außerdem den Eindruck, daß Sie und Ihr Mann sie ermuntert haben, miteinander zu schlafen. Damit eins klar ist - ich bin damit überhaupt nicht einverstanden. Um genau zu sein - ich bin sogar strikt dagegen.«
»Aber sie sind doch gesund«, entgegnete Joy. »Außerdem passen ihre Gene gut zueinander.«
Nancy bemühte sich, nicht aus der Haut zu fahren. So etwas
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