Grünes Gift
Lächerliches hatte sie noch nie gehört. Am wenigsten verstand sie Joys lapidare Einstellung zu der Sache; schließlich war es doch ihre Tochter, die schwanger werden konnte. Genauso wenig begriff sie, wie Joy derart gleichgültig bleiben konnte, wo sie doch selber so aufgebracht war.
»Ich will ja gar nicht abstreiten, daß Jonathan und Candee ein nettes Paar abgeben«, brachte sie mühsam hervor. »Aber immerhin sind sie beide erst siebzehn und damit noch viel zu jung, um schon die Verantwortung Erwachsener zu übernehmen.«
»Wenn Sie das so sehen, bin ich gerne bereit, Ihre Meinung zu akzeptieren«, entgegnete Joy. »Aber mein Mann und ich sind der Ansicht, daß es wesentlich wichtigere Dinge gibt, über die man sich den Kopf zerbrechen sollte, zum Beispiel die Zerstörung der Regenwälder.«
Nancy hatte genug und stand auf. Es lag auf der Hand, daß man sich mit Joy Taylor nicht vernünftig unterhalten konnte. »Danke, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben«, sagte sie kühl. »Ich empfehle Ihnen, sich vielleicht ein bißchen mehr um Ihre Tochter zu kümmern. Sie ist ziemlich durcheinander.« Nancy drehte sich um und wollte gehen. »Warten Sie«, sagte Joy. Nancy zögerte.
»Sie scheinen sich ja wirklich Sorgen zu machen«, stellte Joy fest. »Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.« Sie öffnete die oberste Schublade ihres Schreibtischs und nahm vorsichtig eine schwarze Scheibe heraus. Sie legte sie auf ihre Handfläche und hielt sie Nancy hin. »Hier, nehmen Sie. Das ist ein kleines Geschenk für sie.«
Nancy war sowieso schon überzeugt, daß Joy Taylor nicht nur ein bißchen exzentrisch war. Das ungebetene Angebot eines Talismans rundete das Bild zusätzlich ab. Trotzdem beugte sie sich vor, um das Objekt näher in Augenschein zu nehmen. Sie hatte keine Ahnung, was es sein sollte.
»Nehmen Sie es!« forderte Joy sie auf.
Aus purer Neugier streckte Nancy ihre Hand nach dem mysteriösen Objekt aus, doch plötzlich überlegte sie es sich anders und zog die Hand wieder zurück. »Danke«, murmelte sie. »Ich glaube, ich sollte besser gehen.«
»Nehmen Sie es!« forderte Nancy sie nochmals auf. »Es wird Ihr Leben verändern!«
»Ich mag mein Leben wie es ist«, entgegnete Nancy. Dann drehte sie sich um und verließ Joys Büro. Während sie im Fahrstuhl nach unten fuhr, dachte sie über das Gespräch nach. Es war völlig anders gelaufen, als sie erwartet hatte. Und jetzt mußte sie sich auch noch den Kopf darüber zerbrechen, was sie Candee sagen sollte. Was hingegen Jonathan betraf, mußte sie nicht lange nachdenken. Sie würde ihm einbleuen, einen großen Bogen um das Haus der Taylors zu machen.
Als die Tür von Dr. Millers Büro aufging, standen Cassy und Pitt auf. Vor Dr. Miller betrat ein relativ junger Mann den Raum, der aber schon eine fortgeschrittene Glatze hatte. Er trug einen unauffälligen, zerknitterten grauen Anzug. Auf seiner breiten Nase saß eine randlose Brille.
»Darf ich vorstellen«, wandte sich Sheila an Cassy und Pitt. »Das ist Dr. Clyde Horn. Er ist Epidemiologe und arbeitet bei den Centers for Desease Control in Atlanta. Er ist Influenza-Spezialist und forscht auf diesem Gebiet.« Danach stellte Sheila dem Mann Cassy und Pitt vor. »So junge Assistenzärzte habe ich noch nie gesehen«, stellte Clyde fest.
»Ich bin auch noch kein Arzt«, gestand Pitt. »Ich fange erst im Herbst mit meinem eigentlichen Medizinstudium an.«
»Und ich studiere fürs Lehramt und hospitiere gerade an einer Schule«, erklärte Cassy. »Aha«, sagte Clyde, offenkundig verwirrt. »Pitt und Cassy sind hier, um ihnen ihre persönlichen Erfahrungen mit unserem Problem zu schildern«, erklärte Sheila, während sie Clyde zu verstehen gab, daß er Platz nehmen möge. Sie setzten sich alle hin.
Zunächst berichtete Sheila von den Influenza-Fällen, die sie in der Notaufnahme behandelt hatte. Sie zeigte Clyde ein paar Krankenblätter und Graphiken. Am beeindruckendsten war die Kurve, auf der der rapide Anstieg der Krankheitsfälle innerhalb der letzten drei Tage dargestellt war. Beinahe genauso außergewöhnlich war die in einer anderen Graphik dargestellte Anzahl der Todesfälle von Patienten, die alle wegen der gleichen Symptome in die Notaufnahme gekommen waren, aber unter verschiedenen chronischen Krankheiten gelitten hatten, wie etwa Diabetes, Krebs, Nierenversagen, rheumatischer Arthritis oder Leberschäden.
»Ist es Ihnen inzwischen gelungen, den Virusstamm zu bestimmen?« fragte
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