Grünmantel
was sie dort vorfinden würde. Ihr Körper war wie gelähmt. Sie sah seinen Körper auf Dookers Grab. Das Gewehr lag daneben, und der Boden ringsum war dunkel von seinem Blut. Sie sank auf die Knie und lehnte den Kopf gegen die Brüstung. Sie wollte für ihren Mann beten, doch sie hatte nur Tränen für ihn.
KAPITEL NEUNZEHN
»Hallo, Lewis - Lily.«
Lily sah ruckartig auf, als die zerzauste Gestalt sich von dem Baum über ihnen herabschwang, sich vor ihnen auf die Fersen hockte und sie ansah. Sie trug an diesem Abend keinen Hut auf dem verfilzten Haar, und zum ersten Mal bemerkte Lily die zwei kleinen Hörner über der Stirn. Ihre Augen weiteten sich etwas, doch dann nickte sie. Sie hätte sich denken können, daß das wilde Mädchen enger mit dem Mysterium verbunden war als mit dem Dorf.
Lewis hatte immer von Mally gesprochen, als kenne er sie schon seit Jahren, doch da sie sich erst seit jüngster Zeit häufiger im Dorf oder beim Tanz blicken ließ, hatte Lily bisher kaum darüber nachgedacht, was Lewis ihr über das wilde Mädchen erzählt hatte. Sie hatte immer angenommen, diese Mally sei die Tochter oder Enkelin einer anderen Mally, die Lewis gekannt hatte.
»Du bist also wieder zurück«, sagte Lewis.
»Das bin ich. War das eine Nacht!«
»Und das Mädchen, das du mitgenommen hast?«
»Ich habe es zu seinem Haus gebracht.«
»Warum hast du es mitgenommen, Mally?«
Das wilde Mädchen zuckte die Schultern. »Ich wollte ihr das eine oder andere zeigen, ehe du ihren Kopf mit zuviel Unsinn aus den Büchern vollstopfst.«
»Unsinn? Du kleiner Frechdachs! Du warst es doch, die mich im Anfang auf alle diese Bücher neugierig gemacht hat.«
»Aber nur deshalb, weil du nie aufhörst, Fragen zu stellen«, antwortete Mally lachend. Lily legte beruhigend ihre Hand auf Lewis’ Arm. »Also ist Ali wieder wohlbehalten bei ihrer Familie?« fragte sie. »Wir hörten Schüsse, weißt du ...«
»Die nichts mit uns zu tun hatten«, versicherte Mally.
»Nun, das beruhigt uns. Wir waren sehr besorgt über das Verschwinden von Ali, und die Männer, die mit ihr kamen, waren sehr wütend.«
Mally nickte. »Ich muß jetzt gehen.«
Eine Bewegung beim Stein zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Tommy stand auf und schob sich die Rohrflöte in den Gürtel. Er sah zu ihnen herüber, und ein Lächeln huschte ihm über die Lippen, ehe sein Gesicht wieder den gewohnten abwesenden Ausdruck annahm. Was auch immer von ihm Besitz ergreifen mochte, sobald er die Flöte ansetzte - es war verschwunden, und er war wieder nur Tommy Duffin. Schweigend schlenderte er an ihnen vorbei. Gaffa trottete hinter ihm her. Sie schlugen den Pfad zum Dorf ein.
»Wie alt bist du?« fragte Lily. Lewis sah Mally an und wartete gespannt darauf, was sie antworten würde.
»Weiß nicht«, sagte Mally. »Hab vor langer Zeit aufgehört zu zählen.«
»Fünfzig Jahre? Hundert?« fragte Lewis.
Mally lachte. »Viel, viel älter, Lewis!«
Es war schwer zu sagen, ob sie scherzte oder nicht. Schließlich fragte Lily: »Welch eine Art von Wesen bist du?«
»Ich bin nur ich.« Ihr Blick traf sich mit dem von Lily. »Ich bin ein Geheimnis - das ist alles.«
Sie lachte wieder und stand auf. »Aber ich verrate euch etwas:
Morgen erlebt ihr einen Mondzauber - und das wird sehr schön sein! Euer Flötenspieler kann ruhig die ganze Nacht lang spielen, aber morgen wird Old Hornie über ein Feuer aus Knochen springen und zu beschäftigt sein, um sich um euch zu kümmern. Wir sehen uns dann!«
»Mally!« rief Lewis, doch sie war schon ohne den geringsten Laut im Wald verschwunden.
»Was wollte sie damit sagen, Lewis?« fragte Lily und griff nach seiner Hand.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß offenbar nie, was sie meint. Doch sollte mir der Sinn jemals aufgehen, werde ich mir wahrscheinlich wünschen, es niemals erfahren zu haben.«
»Was willst du denn jetzt damit sagen, Lewis?«
Er schüttelte den Kopf. »Weißt du noch, wie ich dir von dem Mysterium erzählte, und wie wild es werden könnte, wenn wir uns nicht mehr so darum kümmern, wie wir es all die Jahre über getan haben?«
»Ja, aber ...?«
»Ich glaube, Mally könnte noch viel wilder sein.«
Er stand auf und half Lily auf die Beine. Als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, legte er ihr den Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Laß uns gehen - ohne zu reden.«
TEIL DREI
Ein Feuer aus Knochen
Geliebter Pan und all ihr anderen Götter,
die ihr an diesem Ort umgeht,
gebt meiner Seele
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