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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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Schönheit, auf daß der
    äußere und der innere Mann derselbe sei.
    PLATO, aus Dialoge

    »Dies ist der Ort meines Liedertraums,
    der Ort, an dem Musik für mich erklang«,
    flüsterte die Ratte wie in Trance.
    »Hier, wenn irgendwo,
    an diesem heiligen Ort,
    werden wir es sicher finden!«
    KENNETH GRAHAME,
    aus Der Wind in den Weiden

KAPITEL EINS
    Am Dienstagmorgen erwachte Ali ziemlich früh. Weder das späte Zubettgehen am Abend zuvor noch die Aufregung der vergangenen Tage konnten sie im Bett halten. Sie fühlte sich frisch und lebendig. Es gab so vieles zu tun!
    Im Haus war alles still, als sie sich ankleidete. Trotzdem stand Valenti schon in der Küche am Herd und braute Kaffee, als sie nach unten kam und sich an den Küchentisch setzte.
    »Hallo, Kind. Wie geht’s dir?« fragte er.
    »Gut. Mom schläft noch.«
    »Also haben wir die Möglichkeit, miteinander zu reden.«
    »Kann sein. Hast du was von Tom gehört? Ist er okay?«
    Valenti schüttelte den Kopf. »Ich warte immer noch auf Marios Anruf.«
    »Aber er kommt doch wieder in Ordnung, oder?«
    »Das hoffe ich. Willst du einen?« Er zeigte auf die Kaffeekanne.
    »Sicher.«
    Er stellte Milch und Zucker auf den Tisch und brachte die Kanne vom Herd herüber. Ali füllte ihren Becher zu einem Drittel mit Milch, ehe sie den Kaffee eingoß. Als sie Unmengen von Zucker dazugab, lachte Valenti. »Milch und Zucker mit ’nem Schuß Kaffee«, lästerte er.
    Ali streckte ihm die Zunge heraus. Valenti mischte sich seinen eigenen Kaffee zurecht. Beide saßen sich in einträchtigem Schweigen gegenüber, nippten an dem heißen Getränk und genossen den friedlichen Augenblick. Schließlich brach Valenti das Schweigen.
    »Also, was ist mit dir gestern abend passiert?«
    Ali runzelte die Stirn und spielte mit ihrem Löffel. »Ist nicht ganz einfach zu erklären ...« Sie sah auf, und einen Moment lang kreuzten sich ihre Blicke. Dann schaute sie beiseite. »Es ergibt kaum einen Sinn.«
    »Probier’s doch einfach mal!«
    Sie holte tief Luft und sah ihn an.
    Er lächelte. »Laß dir Zeit.«
    »Okay. Als der Hirsch davonsprang, verschwand er nicht im Wald hinter dem Stein, sondern lief ... irgendwo anders hin - in den Stein, soviel ich weiß ...«

    »Was wirst du also tun?« fragte Valenti, als sie endete.
    Das mochte Ali so an ihm. Im Gegensatz zu anderen Erwachsenen sprach er mit ihr, als erwarte er von ihr, daß sie selbst schon ein paar Ideen entwickelt hatte, die er sich anhören wollte.
    »Ich weiß es nicht. Ich denke, ich sollte tun, was Mally vorschlägt, oder wenigstens das Mysterium zu mir rufen und es zum Reden bewegen - oder zu einer anderen Art der Verständigung. Und wenn es will, werde ich es befreien. Wenn ich es schaffe. Was aber, wenn Lewis recht hat? Wenn es gefährlich ist, das Mysterium zu befreien?«
    »Vermutlich läuft das Ganze darauf hinaus, wem von beiden du mehr vertraust«, meinte Valenti.
    »Vermutlich. Alles, was Lewis sagt, ergibt einen Sinn, weil es auf dem Wissen basiert, wie die Welt beschaffen ist. Das Mysterium ist bei ihm das einzig Magische. Bei Mally ist das anders - bei ihr ist alles nur Magie. Herrje, sieh sie dir doch nur an ... Eigentlich traue ich keinem, denn ich habe das Gefühl, als ob beide aus all dem etwas für sich herauszuholen versuchen. Lewis hätte am liebsten, wenn alles hübsch in ein Kästchen passen würde und er entscheiden könnte, wann es geöffnet wird und wann nicht.«
    »Und Mally?«
    »Ich bin mir nicht ganz klar, was sie will. Sie ist jedesmal anders. Manchmal benimmt sie sich wie ein normales Kind, manchmal aber auch so, als sei sie tausend Jahre alt.«
    »Vielleicht ist sie tausend Jahre alt«, gab Valenti zu bedenken. »Nach allem, was sie dir erzählt hat.«
    Ali sah ihn scharf an. »Das meinst du doch nicht im Ernst, oder?«
    »Wahrscheinlich nicht.« Er lachte, doch es klang nicht sehr überzeugt.
    »Was tätest du, Tony?«
    Er überlegte und schüttelte den Kopf. »Ich kann dazu nichts sagen. Du und ich, wir kommen aus zwei verschiedenen Welten, verstehst du? Wenn Mally eine Entscheidung von mir gewollt hätte, wäre sie wahrscheinlich zu mir gekommen. Ich fürchte, du mußt deine Entscheidung allein treffen.« Wie auch deine Mutter allein ihre Probleme angehen muß, dachte er bei sich. »Aber eines kann ich dir versprechen, Ali. Wie du dich auch entscheidest, ich werde immer hinter dir stehen.«
    »Obwohl ich nur ein Kind bin?« Die Frage mußte sie einfach stellen. Wenn sie sich auch darüber

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