Grünmantel

schloß - nicht als Hirsch oder als Grüner Mann, wie Lewis ihn sah, auch nicht so, wie sie es in dieser Gegenwelt nach ihrem Ritt auf dem Hirsch gesehen hatte, sondern als den Ziegenmann, dessen Gestalt es in der letzten Nacht für einen Moment angenommen hatte. Die langen gewundenen Hörner und die hageren Gesichtszüge, die sie ein wenig an Mally erinnerten. Seine Rohrflöte war wie die von Tommy gewesen, aber auch wieder anders. Weil seine Musik eine andere war. Tommys Weisen erweckten in ihr den Wunsch zu tanzen, sie brachten ihre Gefühle ins Schwingen, bis sie einfach mit ihrem Körper in den Rhythmus einfallen mußte. Aber diese andere Musik, seine Musik, erfüllte sie mit Frieden. Sie hatte sie nie gehört, wußte aber genau, wie sie klänge. Sie wußte einfach, wie sie sein würde.
    Sie versuchte, sich nicht von Tommys Musik ablenken zu lassen, suchte in sich nach jener anderen Melodie, die das Mysterium spielen würde, wenn es anstelle von Tommy auf der Flöte blies. Sie schloß die Augen und rief sich seine Erscheinung ins Gedächtnis. Es tauchte leicht verschwommen am Rand ihres Bewußtseins auf, und auch seine Musik war fast zu hören. Aber dann löschte Tommys Musik sie wieder aus, und Alis Erinnerung kehrte zur letzten Nacht zurück. Der Ziegenmann war wieder der Hirsch, der bei dem alten Stein auftauchte. Man tanzte, und sie wiegte sich mit Lily im Reigen der Musik. Dann packte Mally sie und warf sie auf den Rücken des Hirsches, und ab ging’s nach Irgendwo.
    Sie folgte der Erinnerung, folgte ihr auf dem wilden Ritt durch einen Wald, den es auf dieser Welt nicht gab, zum Gipfel eines außerweltlichen Berges mit seinen kreisrunden Steinformationen. Der riesige Mond hing tief am Himmel, und die Sterne leuchteten übernatürlich hell. Ihr eigener Atem gefror in der kalten Luft. Das Mysterium war ein Hirsch, dann ein Mann in einem Umhang aus grünen Blättern; und sie stand vor ihm, fragte ihn, was er wünschte, fragte ihn nach einem Namen. Wieder nahmen seine Augen sie gefangen - in der Erinnerung ebenso mächtig wie in jener Nacht. Irgend etwas in ihren Blicken verband sich miteinander und riß sie mit sich fort, immer weiter und weiter ...
    Es gibt keinen Namen für ein Wesen wie dich, dachte Ali. Niemand kann dir einen Namen geben. Man kann nur eine Verkörperung von dir nehmen, etwas, das man sieht, und dich danach benennen. Pan. Old Hornie. Grüner Mann. Grünmantel.
    Grünmantel!
    So würde ich dich nennen, wenn ich dich nur von letzter Nacht her kennen würde. Aber ich kenne dich schon mein ganzes Leben lang, nicht wahr? Du bist es, der die Jahreszeiten kommen und gehen läßt, der das Blut im Körper zum Fließen bringt. Du hast mich das Atmen gelehrt, als ich den Bauch meiner Mutter verließ. Du lehrtest meinen Körper das Wachsen und brachtest meinem Herzen bei, dich zu erkennen, als ich dich schließlich fand. In den Seiten eines Buches. In der Melodie eines Liedes. In einem Ast, der sich gegen den Himmel reckt, im Gesang eines Rotkehlchens, in den Augen einer Katze, im Duft einer Blume ...
    Sie sah in ihrer Erinnerung, wie sie sich von ihm abwandte - weil Mally sie rief. Sie mußten diesen Platz im Land Irgendwo verlassen. Es wurde Zeit zu gehen bevor ... bevor was?
    Dann hörte sie ihr Geifern und Bellen, und das Gefühl der Wärme, das die Erinnerung in ihr hinterließ, gefror ihr in den Adern. Die Jagd, die Meute. Sie mußten sich beeilen, denn wenn die Meute ihre Witterung an diesem Ort aufnahm, würde sie sie und Mally jagen, wie sie auch den Hirsch jagte. In ihrer Erinnerung sah sie, daß sie der Meute entkamen. Aber dann tauchte plötzlich ihr Bild in der Nacht auf: die Hunde - oder Männer - am Waldrand, die zu ihrem Fenster hinaufstarrten ...
    Sie riß die Augen weit auf. Die Flammen blendeten sie. Sie blinzelte und schaute zur Seite.
    »Mally«, sagte sie, aber das wilde Mädchen war verschwunden.
    Ali stand auf. Trotz der Hitze des Feuers zitterte sie. Irgend etwas war mißglückt. Sie hörte die Flötenmusik nicht mehr. Wie lange hatte sie sich in ihren Erinnerungen verloren?
    Es konnte nicht sehr lange gewesen sein, denn die Flammen schlugen immer noch sehr hoch. Aber wo war Mally? Warum fühlte sie sich so seltsam?
    Das Gebell der Meute drang wieder zu ihr - und jetzt war es ganz nahe. Ali bückte sich und hob mit zitternder Hand Tonys Wanderstab auf. Irgend etwas lief hier völlig falsch. Sie drehte sich langsam um und schaute zum dunklen Wald hinüber. Wenige Augenblicke