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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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Er hatte die beiden Mädchen vom Wold Hill herunterkommen sehen und wußte, daß sich da irgend etwas tat. Ebenso wußte er, daß sie hungrig waren und daß Mally nie um etwas bat, andererseits aber nichts dagegen hatte, die Verpflegung zu ›finden‹ und mitzunehmen.
    Ich wüßte zu gern, was ihr vorhabt, dachte er, als er jetzt zum Hügel hinüberschaute. Das Zwielicht wurde immer intensiver. Lewis stand einfach da, lauschte der Stille und genoß sie. Für ein paar Minuten traten alle Fragen und Zweifel vor der Schönheit des Augenblicks in den Hintergrund - bis er das Schlurfen von Schritten auf dem Pfad hörte, der am Haus vorbeiführte.
    Lewis sah Gaffa vorbeilaufen, und wenig später tauchte Tommy auf. Es ist kein Abend, an dem sich das ganze Dorf versammelt, dachte Lewis, folgte aber trotzdem Tommy Duffin den Pfad hinauf zum alten Stein. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß heute abend etwas in der Luft lag. Was es war, wußte er nicht, aber er wollte es auf keinen Fall verpassen.

    Die kleine Flamme sprang rasch über und erfaßte bald auch die dickeren Äste des Holzstoßes. Ein einziges Streichholz, dachte Ali. Nicht schlecht. Und dabei bin ich nie bei den Pfadfinderinnen gewesen. Während sie den um sich greifenden Flammen zusah, ging die Sonne unter. Bald spendete das Feuer schon mehr Licht als der graue Himmel. Ali sah Mally an. Der flackernde Schein warf tanzende Schatten auf das Gesicht des wilden Mädchens. Als dann Tommys Flötenklänge den Hügel heraufwehten, schlug Alis Herz plötzlich schneller.
    »Ruf ihn jetzt zu dir«, bat Mally leise.
    Ali nickte langsam. »Aber wie?«
    »Mit dem Feuer, das in dir brennt.«
    Ich habe kein Feuer in mir, wollte Ali sagen. Ich habe nur Schmetterlinge im Bauch. Aber dann erweckten die Musik und das Knistern und Krachen des Freudenfeuers etwas in ihr, und sie dachte: Das muß es sein. Sie konzentrierte sich auf dieses Gefühl, schaute dabei wie hypnotisiert in die tanzenden Flammen und versuchte das Mysterium zu sich zu rufen.
    »Nenn seinen Namen«, verlangte Mally.
    »Ich kenne seinen Namen nicht.«
    »Dann gib ihm einen - einen, an dem du es immer wiedererkennst.«
    Old Hornie, der Gehörnte, dachte Ali im ersten Moment, schüttelte aber den Kopf. Nein, das war Mallys Name für das Mysterium. Und für Lewis war es der Grüne Mann. Was war es für sie? Nur das Mysterium? Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen. War es für sie vielleicht Bambis Vater?
    »Fühlst du die Nacht?« fragte Mally. »Sie wartet. Ruf es zu dir.«
    Ali nickte. Aber ich habe keinen Namen für den Hirsch, dachte sie und rückte ein wenig vom Feuer weg, dessen Flammen nun höher loderten. Die Leute sehen es meilenweit, dachte sie. Was, wenn sie die Waldbrand-Brigade alarmieren? Es war wie ein Leuchtfeuer.
    Mally hatte gut reden - das Mysterium rufen, nun gut. Aber wenn es Wirklichkeit war, hatte es dann nicht ein ganzes Reich voll außerweltlicher Bewohner, die es rufen konnten? Viktorianische Elfen und Gnome kamen ihr in den Sinn. Illustrationen aus Dutzenden von Kinderbüchern. Feen und Trolle und alle möglichen Wesen. Sie dachte an die Wilde Jagd, die letzte Nacht ihr Fenster beobachtet hatte, an die Meute, die den Hirsch jagte. Sie erbebte und schob das Bild von sich.
    Statt dessen versuchte sie, sich einen Namen für das Mysterium auszudenken. Ihr fiel ein Kapitel aus The Wind in the Willows ein, einem ihrer Lieblingsbücher. Sie dachte an Grahames Ratte, den Maulwurf, den Dachs. Die Kröte dagegen hatte sie nie gemocht. Es waren die stillen Geschöpfe, die sie am meisten mochte, die pittoreske Schilderung ruhiger Zeiten. Die Erzählungen von Picknicks und Julnächten und Ruderbooten auf dem Fluß ...
    Ihr fiel wieder das Kapitel ein, in dem Portly, der Sohn vom Otter, verlorengegangen war und sich alle Tiere aufmachten, um nach ihm zu suchen. Ratte und Maulwurf in ihrem Ruderboot fanden ihn schließlich, aber sie fanden auch noch etwas anderes - ein Mysterium, das über dem kleinen Otter wachte. Grahame nannte es Der Pfeifer an den Toren der Dämmerung . Ali dachte niemals an Pink Floyd, wenn sie diese Phrase hörte, immer nur an das Buch von Grahame, an die ehrfürchtige Scheu von Ratte und Maulwurf, und an den Schauer, der ihr jedesmal über den Rücken lief, wenn sie an diese wenigen Seiten dachte oder sie noch einmal las.
    Genauso sehe ich dich, sagte sie in Gedanken zu dem Mysterium. Wenn ich doch nur deinen Namen wüßte.
    Sie sah es vor sich, wenn sie die Augen

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