Grünmantel
da heraushalten.«
Ali vergaß das Kauen. Probleme. Also ihr Vater oder der Mann, der hinter Tony her war - oder auch beide. Sie fragte sich, wieviel Tony wohl ihrer Mutter erzählt hatte. Von dem Hirsch und dem, was sie hier oben tat, hatte er ihr bestimmt erzählen müssen, aber was war mit den Männern, die hinter ihm her waren? Hatte er ihr auch von ihnen erzählt - und warum sie hinter ihm her waren?
Wahrscheinlich nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ihre Mutter so etwas einfach hinnähme. Aber es war trotzdem schade. Ali hatte gehofft, die beiden vielleicht zusammenzubringen, wenn das hier alles vorbei war. Aber offenbar waren beide zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu merken, daß sie ein gutes Paar abgaben. Sehr schlecht standen die Chancen, wenn ihre Mutter erst mal alles über Tonys Vergangenheit erfuhr. Denn Ali kannte ihre Mutter.
»Sie trugen beide Waffen«, sagte Mally.
»Sie trugen was? Beide? «
Mally nickte. »Kleine Waffen.« Mit der Hand deutete sie ein Pistole an. »Und dann noch eine, die weder klein noch so groß wie ein Gewehr war.«
Das kann alles und nichts bedeuten, dachte Ali und berücksichtigte Tonys Vergangenheit. »Und du bist sicher, auch meine Mutter hatte eine Waffe?« Sie konnte es nicht glauben.
»O ja, ich habe sie doch gesehen.«
Ziemliche Leistung, Tony, meine Mutter zu ’ner Gangsterbraut zu machen. Aber denk daran - sie ist nicht Sybil Danning. Keine Chance! Und die war auch nur im Film dazu geworden, nicht in der Wirklichkeit. Ali war sich nicht klar darüber, ob der Gedanke, daß ihre Mutter eine Waffe trug, sie beruhigte oder nicht. Es war gut zu wissen, daß sie sich selbst schützen konnte, doch Ali mochte ihre Mutter so, wie sie war. Sie brauchte etwas mehr Durchsetzungsvermögen - besonders Männern gegenüber.
Aber daß diese Lektion gleich so weit gehen mußte ...
Ali seufzte und biß in ihr Sandwich. Welch seltsame Wendung alles genommen hatte. Wir müssen irgendwo Wurzeln schlagen, hatte ihre Mutter gesagt. Einen Ort finden, den wir wirklich unser Zuhause nennen können. Doch der Frieden und die Ruhe, die sich beide erhofften, hatten sich nicht eingestellt. Ali mußte daran denken, wie ihr Leben in den letzten Wochen völlig auf den Kopf gestellt worden war. Es tat ihr nicht leid - zumindest nicht alles. Besonders wenn sie an Tony, Mally und den Hirsch dachte - und an das Gefühl, das das Mysterium in ihr weckte, obwohl sie mit ihrem Auftauchen das ganze Unheil erst heraufbeschworen hatten.
»Bist du satt?« fragte Mally.
Ali blickte auf ihre Hand und sah, daß sie das ganze Sandwich aufgegessen hatte. »Wahrscheinlich«, sagte sie und fuhr mit reuigem Lächeln fort: »Ich bin wohl nicht sehr gesellig, stimmt’s?«
»Was meinst du damit?«
»Ich bin sehr launisch - hänge den ganzen Tag nur meinen Gedanken nach.«
Mally zuckte die Schultern. »Reden ist nicht alles, Ali. Manchmal reicht es völlig, nur zusammenzusein. Hat das Mysterium dir das noch nicht beigebracht?«
»Manche Dinge lerne ich nicht so schnell.« Ali schnippte einen Brotkrumen vom Finger. »Und du bist sicher, daß meine Mutter verstanden hat, warum ich nicht nach Hause kommen konnte?«
»Nein, aber ich denke, sie vertraut dir insoweit, als du dich und deine Fähigkeiten kennst.«
»Dieser Tag wäre ’ne Feier wert«, meinte Ali, wußte aber, daß sie damit ihrer Mutter gegenüber ungerecht war. Ihre Mutter konnte sehr streng sein, wenn es darum ging, Ali richtig zu erziehen, ließ ihr aber auf der anderen Seite sehr viel Freiheit. Ali hatte schon festgestellt, daß sie nicht so häufig in Schwierigkeiten geriet wie andere Kinder, weil sie wußte, daß ihre Mutter ihr vertraute - und dieses Vertrauen wollte sie nicht zerstören. »Ich hoffe nur, daß ihnen nichts passiert«, sagte sie.
»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, dir Sorgen um sie zu machen«, meinte Mally. »Du mußt dich auf Old Hornie konzentrieren.«
Ali sah zu dem Holzstoß hinüber. »Wann fangen wir denn an? Du weißt schon, das Feuer anzünden und so ...«
»Wenn wir Tommys Flöte hören - das ist der beste Zeitpunkt.«
Ali nickte und schaute nach Westen. Die Sonne sank immer tiefer und verwandelte sich in einen orangefarbenen Ball, als sie sich dem Horizont näherte. Das Mädchen hatte keine Uhr dabei, doch zeigten ihr die länger werdenden Schatten im Wald unter ihnen, daß es bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht mehr allzu lange dauern konnte. Dann würden sie Tommys Flöte hören
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