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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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und das Feuer anzünden. Dann würde sie den Hirsch zu sich rufen ...
    Beim Gedanken an Tommys Musik erinnerte sie sich wieder an die letzte Nacht, an den Ort, zu dem Mally und der Hirsch sie entführt hatten. Er war fast wie die Musik. Sehr real und unmittelbar, hier und jetzt - und doch unirdisch, wie von einer anderen Welt, feenhaft. Sie liebte den Klang dieses Wortes, Feenhaft. So würden die Leute sagen, wenn sie in jener Zeit leben würden und sie auf dem Hirsch reiten sähen - in Gesellschaft eines gehörnten wilden Mädchens. ›Diese Ali‹, würden sie sagen, ›sie ist so feenhaft.‹ Entweder das - oder sie würden sie als Hexe verbrennen.
    Ali betrachtete den Holzstoß vor sich und erschauerte. Rasch drehte sie sich zu Mally um. »Was ist mit der Meute?« Sie hatte dem wilden Mädchen schon erzählt, daß sie sie letzte Nacht draußen vor ihrem Fenster gesehen hatte.
    »Denk nicht daran, sonst rufst du sie vielleicht zu uns. Doch wenn sie auftaucht - beachte sie nicht. Alles, was sie dir erzählen, sind Lügen. Sie klingen logisch und überzeugend, o ja, aber es sind Lügen.«
    »Ich bin aufgeregt.«
    Mally lächelte. »Das brauchst du nicht. Schließlich bist du gestern auf seinem Rücken geritten.«
    »Sicher, aber das hier ist doch was anderes.«
    »Ja«, meinte Mally sanft. »Es wird anders sein.« Sie betrachtete Ali. »Sei einfach fröhlich.«
    »Mir fällt es schon schwer genug, keine weichen Knie zu bekommen, und jetzt soll ich auch noch lächeln.«
    »Aber fröhlich bedeutet ebenso ›erwartungsvoll‹ wie ›glücklich‹. Versuch, beides zu sein - die Balance zwischen beidem zu halten, und du wirst sehen, du fühlst dich gleich besser. Ein Dichter ruft erwartungsvoll nach seiner Muse, und sie kommt glücklich zu ihm. Warum machst du es nicht auch so?«
    »Ich rufe nicht nach einer Muse«, meinte Ali. »Ich rufe den Hirsch zu mir.«
    »Manche Leute würden sagen, es ist das gleiche.«
    Ali betrachtete stirnrunzelnd den Holzstoß und das geschmückte Geweih darauf. Dann schaute sie nach Westen, wo die Sonne gerade noch über den Horizont ragte.
    »Ich möchte nur mit ihm reden«, murmelte sie. »Ich will ihn fragen, ob er frei sein möchte - das ist alles, Mally. Ich erwarte nichts für mich selbst.«
    Mally nickte. »Ich weiß. Trotzdem wirst du gleichzeitig auch etwas für dich tun müssen, sonst ist alles vergeblich.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Ich weiß«, sagte Mally erneut. »Das macht aber nichts. Es wird trotzdem geschehen.«
    »Du weißt mehr, als du mir verrätst, stimmt’s? Was hast du von der ganzen Sache, Mally?«
    Das wilde Mädchen zuckte die Schultern. »Ich weiß eigentlich kaum mehr als du. Ich weiß nicht, was ich davon habe - oder du oder selbst der Gehörnte. Ich weiß nur, daß bestimmte Dinge getan werden müssen - ich weiß es einfach. Weil ich ein Geheimnis bin, weiß ich wahrscheinlich gewisse Dinge, aber ich weiß nicht, wieso ich sie weiß.«
    »Du bist der Grund dafür, daß der Sohn von Lewis weggegangen ist, nicht wahr? Und Lilys Sohn und alle anderen. Du hast mit ihnen gesprochen und ihnen gezeigt, was jenseits des Dorfes und dieser Wälder liegt. Nachdem sie es einmal gesehen hatten, mußten sie einfach gehen. Ist es nicht so?«
    »Ich habe mit ihnen gesprochen, ihnen aber immer gesagt, das Dorf brauche mehr Menschen, nicht weniger. Ich habe sie nicht zum Weggehen verleitet.«
    »Das hättest du nicht tun dürfen.« Ali spürte, daß sie einer bestimmten Sache ganz nahe gekommen war, wußte aber nicht, was es war. Sie versuchte nicht nur, Mally zu durchschauen - wer sie war und warum sie tat, was sie tat -, sondern viel mehr. »Du hast Lewis die Bücher gegeben«, fuhr sie fort. »Hast du auch mit Ackerly Perkin gesprochen?«
    Mally gab keine Antwort.
    »Befreien wir den Hirsch, oder binden wir mich nur an das Mysterium?«
    Mally hob langsam den Blick und sah Ali mit ihren Katzenaugen an. »Der Zeitpunkt naht«, sagte sie. »Entzünde jetzt besser das Feuer aus Knochen.«
    Ali schwieg lange. Antworte mir! hätte sie am liebsten gerufen, Mally gepackt und die Wahrheit aus ihr herausgeschüttelt. Aber sie wußte, daß es nichts nutzte. Es gab nur einen Weg, um die Wahrheit an den Tag zu bringen, und das bedeutete, die ganze Sache bis zum Ende durchzustehen. Gott, dachte sie, als sie ein Streichholzheft aus der Tasche zog, hoffentlich bereue ich es nicht irgendwann.

    Lewis lächelte, als er feststellte, daß die Brote und der Wasserbeutel verschwunden waren.

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