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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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zu bedenken.
    »Ja, natürlich - aber Sie haben auch die Musik gehört.«
    »Was ist mit Luftaufnahmen?«
    Lewis schien verwirrt.
    »Fotografien«, erklärte Bannon. »Aufgenommen aus der Luft.« Er zeigte zum Himmel. »Als man diese Gegend für die Regionalkarten fotografierte, hätte man das Dorf auf den Fotos sehen müssen, aber laut Tony ist New Wolding auf keiner Karte verzeichnet, die das Amt für Energie, Bergbau und Rohstoffe nach diesen Fotos angelegt hat.«
    Lewis nickte. Er hatte verstanden. »Ich habe keine Erklärung dafür«, meinte er. »Es gibt da so vieles Unklare, daß ich nicht mal ...«
    Seine Stimme erstarb, als Flötentöne wie ein klarer Quell durch die stille Nachtluft perlten. Sie berührten jeden mit ihrer einfachen, reinen Schönheit. Lewis lächelte, und sein Herz öffnete sich, um einen alten Freund willkommen zu heißen, doch seine Gäste standen wie erstarrt. Nie zuvor hatten Ali und Valenti die Musik so klar und rein gehört. Sie hallte in ihnen wider, weckte Sehnsüchte und Bedürfnisse, die sie nicht in Worte fassen konnten. Bannon, bisher noch unberührt von ihrem Zauber, hob den Kopf. Er sog tief die Luft ein, als wolle er die Musik mit jedem seiner Sinne in sich aufnehmen.
    »Madonna mia« , hauchte Valenti. »Das ist ... es ist ...« Ihm fehlten einfach die Worte, um zu beschreiben, was er hörte oder empfand.
    Die Dorfbewohner strömten an Lewis’ Hütte vorbei. Sie gingen zum Stein, wo Tommy spielte. Die meisten waren alt oder schon in mittleren Jahren. Auch ein paar Teenager gab es in ihren Reihen, aber keine kleinen Kinder. Als eine etwa sechzigjährige Frau am Ende des Pfades stehenblieb, der zu Lewis’ Hütte führte, gesellten sich die vier zu ihr und bildeten den Abschluß der unregelmäßigen Prozession.
    »Wer sind deine Freunde, Lewis?« fragte Lily.
    Lewis stellte sie der Reihe nach vor, doch waren sie zu sehr von der Musik gefangen, von ihrer Nähe und Reinheit, daß sie nur nicken konnten. Lily lächelte und ergriff Alis Hand. »Gehst du zum ersten Mal zum Stein?«
    Ali nickte.
    »Nun, dann mußt du mit mir tanzen. Wirst du das tun?«
    Ali warf einen Blick zu Valenti und Bannon hinüber, doch beide schauten nach vorn. Auch sie fühlte die Lockung der Musik und hatte es eilig, zu ihrer Quelle zu gelangen. Gehorsam nickte sie der Frau zu, die sie an der Hand hielt.
    »Ich ... ich glaube, ich würde es gern versuchen«, sagte sie schüchtern.
    »Oh, du wirst es sehr gut machen«, erklärte Lily. »Nicht wahr, Lewis?«
    »Das denke ich auch«, meinte Lewis.

    Mally saß hoch oben in der Krone eines Baumes, die auf die Lichtung und über den Stein hinausragte, und verfolgte, wie die Dörfler in kleinen Gruppen eintrafen. Sie war vor allen anderen hierhergekommen, sah Tommy mit schweren Schritten und verbissenem Gesicht eintreffen und beobachtete die Veränderung, die mit ihm vorging, kaum daß er die Rohrflöte an die Lippen setzte. Beim Klang der Flöte keimte ein Lächeln in ihren Augen auf. Ja, die Musik war gut und stark heute nacht, stark genug, um das Mysterium herbeizurufen, vielleicht sogar stark genug, die Hunde in Schach zu halten. Sie setzte sich in ihrer Astgabel bequemer zurecht und beobachtete die Ankunft der Dorfbewohner.
    Tommy beschleunigte die Musik aus ihrem getragenen Rhythmus zur Tanzmusik, und wenig später wiegten sich Kate und Holly auf der feuchten Wiese zu ihren Klängen. Martin Tweedy gesellte sich zu ihnen. Mally wandte den Blick zu Lily und Lewis und den drei Außenweltlern, die sie mit zur Lichtung gebracht hatten.
    »Hallo, Ali«, sagte Mally so leise, daß nur sie selbst es hören konnte, als sie den Teenager auf die Wiese hinaustreten sah.
    Lily hielt Ali an der Hand und zog sie zu den Tänzern. Die beiden anderen Besucher blieben bei Lewis stehen und betrachteten den Flötenspieler und die tanzenden Gestalten. Mally nickte zufrieden, als sie die Wirkung der Musik auf Bannon bemerkte. In ihm flammte zwar nicht gerade ein Feuer auf wie in den beiden anderen, aber vielleicht bewirkte die Musik sogar etwas noch Besseres - eine tiefe Ruhe.
    Old Hornie mochte das. Er brauchte die Feuer - wie die Freudenfeuer auf den Hügelkuppen zu Heiligabend, zur Mittsommernacht und zum Erntedank -, aber er mochte auch die Ruhigen. Man hörte in der Stille seltsame Dinge. Das Trommeln von Hufen und das Flüstern hinter der Musik. Den Chor der Dämmerung, wenn die Gefiederten ihr Loblied sangen. Mally lächelte. Sie wollte vom Baum steigen und tanzen,

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