Grünmantel

seine Frau nennen zu können, selbst wenn er dafür wie ein Berserker schuften müßte.
    Aber es war zu spät. Er war eben das, was er gewesen war, und nun wurden seine Schulden eingefordert. Die Magaddinos würden ihn kriegen, auf die eine oder andere Weise. Sie würden ihn entweder auslöschen oder ihn zu einem Leben zwingen, bei dem er ständig über die Schulter nach hinten sehen müßte, bei dem er nie jemanden näher kennenlernen durfte, weil er nie wissen konnte, wann die bastardi kamen, um ihn sich zu holen.
    Plötzlich hatte er das Gefühl, daß die Musik eine persönliche Botschaft für ihn enthielt. Sieh nach vorn, schien sie zu sagen. Bedaure dich selbst, bedaure die Dinge, die du getan hast und die, die du nie zu tun imstande sein wirst. Aber denke immer daran, daß du nicht mehr das bist, was du einmal warst, sondern das, was du jetzt bist.
    Klar doch, dachte er, aber bring das mal den Burschen bei, die der neue padrone auf mich angesetzt hat. Aber die Musik ließ diesen Gedanken nicht zu. Sie lenkte seinen Blick auf die Tänzer, und sein Herz öffnete sich ihr. Die Feuer in seinem Innern zuckten und loderten, und die Flammen tanzten im Rhythmus der Flötentöne.

    Ali war die erste der drei Außenweltler, die den Hirsch lautlos aus dem Wald hinter Tommy hervortreten sah. Er ragte hinter dem Jungen auf wie ein Zwilling des alten Steins, mit glühenden Augen und hochgerecktem Geweih auf die Lichtung spähend. Ali erstarrte mitten in der Bewegung. Sie ließ Lilys Hand los und betrachtete das riesige Tier. Ihr schossen alle die Dinge durch den Kopf, die Lewis ihnen erzählt hatte, doch nichts davon war im Moment wichtig. Es war unwichtig, wer oder was der Hirsch war oder woher er gekommen war. Wichtig war nur, daß er existierte. Trotzdem verstand sie nun die Legenden und Mythen besser, die sich um dieses majestätische Wesen rankten.
    Sie wandte keinen Blick von ihm, und plötzlich war es nicht mehr ein Hirsch, sondern ein Mann. Er stand hochaufgerichtet und reckte das Geweih in den Himmel - aber auf zwei gespaltenen Hufen, nicht auf vier. Ein Mantel lag um seine Schultern, bedeckt mit Blättern, Kletten und kleinen Zweigen, einige grün und sprießend, andere zu einem herbstlichen Braun vertrocknet. Sein Gesicht war kantig wie das einer nur grob behauenen Statue - ein weises Gesicht, und ein trauriges dazu. Aber auch Freude und eine Spur Wildheit zeigten sich darin, ein Sinn für Humor und Spaß. Nur die Augen blieben immer die gleichen - dunkel und feucht.
    Ali tat einen Schritt nach vorn, und die Gestalt änderte sich erneut. Jetzt waren die Geweihgabeln die Hörner eines Ziegenbocks. Der Mantel fiel ins Gras und wurde zu einem Teppich aus Mulch, in dem das Tier mit seinen Ziegenhufen scharrte. Die Brust war behaart und muskulös, das Gesicht hatte nun eine dreieckige Form, die noch von einem kleinen Ziegenbart unter dem Kinn betont wurde.
    Pan, dachte Ali. Sie wollte seinen Namen aussprechen, doch ihre Muskeln waren wie betäubt, und ihr Hals war wie zugeschnürt. Die Musik um sie herum schwoll an und ab, während sie den ersten Schritt, dann einen zweiten und dritten tat und sich der magischen Erscheinung immer mehr näherte. Und dann hörte sie die anderen Geräusche - zuerst fern, dann immer lauter werdend. Es hörte sich an wie das Bellen von Hunden bei der Jagd, das Heulen von Wölfen. Ihr fiel wieder ein, was Lewis über die Wilde Jagd gesagt hatte, und sie schüttelte den Kopf. Sie durften ihn nicht kriegen. Nicht dieses Wesen.
    Das Gebell der Meute wurde lauter, durchschnitt die Musik. Die anderen Tänzer blieben stehen. Die Umrisse des Ziegenmannes verschwammen. Er verwandelte sich zurück in den Hirschmann, groß, mit breiter Brust - und schließlich wieder zu einem Hirsch. Er trommelte mit seinen harten Hufen auf dem Boden herum, daß Gras und Soden umherflogen. Das Gebell der Meute kam immer näher.
    »N ... nein!« rief Ali. Sie wollte sich umdrehen. Sie würde sie aufhalten, dem Mysterium Zeit zum Entkommen verschaffen. Doch plötzlich war da eine vertraute Gestalt an ihrer Seite. Ein breitrandiger Schlapphut bedeckte das wirre Haar, und die Zähne schimmerten weiß, als sie Ali zulächelte.
    »Komm!« rief Mally und ergriff Alis Hand.
    »Nein!« protestierte Ali. »Die Jagd ...«
    »Vergiß die Jagd. Heute abend jagen wir den Mond!«
    Sie standen nun dicht vor dem Hirsch. Mally packte Ali mit beiden Händen um die Hüften und schwang sie mit einem »Ali-oop!« auf den Rücken des Bocks.