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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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besonders mit Ali, aber sie wollte auch die Gesichter der Fremden sehen, wenn der Hirsch sich zeigte. Also blieb sie erwartungsvoll und aufgeregt in ihrer Astgabel hocken, atmete tief die Luft ein und beobachtete ihre Gesichter.

    Der Stein war es, der als erstes Bannons Blick auf sich zog - seine dunkle Masse, die gen Himmel ragte, der Schimmer des Mondlichtes auf seinen Quarz-Venen, die wie uralte Runen spiralenförmig über die steinerne Oberfläche liefen. Dann erst sah er den Jungen. Tommy war völlig verwandelt - körperlich verwandelt. Er glich in keiner Weise mehr dem Jungen, den Bannon am Nachmittag bei der Gartenarbeit gesehen hatte.
    Bannon hatte keinerlei Vorstellung gehabt, welche Art von Musik und welche Geschehnisse ihn beim Stein erwarteten. Das alles war ihm zu sphärisch, zu verrückt vorgekommen. Aber jetzt, da er die Musik hörte und spürte, wie sich der Geist des Mysteriums auf der Lichtung immer mehr verdichtete begriff er plötzlich, was weder Tony oder Ali noch der Alte ihm vorher hatten erklären können.
    Es war Magie - ganz schlicht und einfach.
    Daß ein solcher Hinterwäldler-Junge eine derart zauberhafte Musik machen konnte. Daß dieser Platz der übrigen Welt verborgen blieb. Daß es da tatsächlich einen riesigen Hirschbock geben mochte, der die Manifestation war von ... was immer es sein mochte, das die Seele von den Handlungen des Körpers unterschied.
    Es war Magie.
    Bannon bemerkte überrascht, wie er das Gesicht zu einem Lächeln verzog. Er verstand jetzt, warum die Dorfbewohner hierblieben, warum es für Lewis Datchery so wichtig war, herauszufinden, was da vor sich ging, wenn die Musik ertönte. Für ihn selbst war es wichtiger, sich von dem Fluß der Töne forttragen zu lassen. Nicht, um zu fragen, sondern um zu erfahren.
    Er hatte gefragt. Er hatte verächtlich und geringschätzig reagiert. Doch jetzt wußte er, daß die, welche ständig hinterfragten, diejenigen, die alles zerpflücken mußten, um dahinterzukommen, was es war und wie es funktionierte - daß diese Menschen am Ende die Verlierer waren. Die Magie der Dinge würde ihnen immer verschlossen bleiben, und das Mysterium würde für sie immer tiefer und unergründlicher. Denn wenn es sein Geheimnis verlor, war es kein Mysterium mehr. Es wurde seiner Kraft beraubt, und übrig blieben nur trockener Staub und die Stimmen der Menschen, die darüber diskutierten, was es einmal gewesen war. Die Stille, die Musik, die Magie wären dahin.

    Valenti sah Ali beim Tanzen zu und fühlte sich dabei wie ein liebender Vater, der sein Töchterchen die ersten Schritte machen sieht. Eine Welle von Zuneigung wallte in ihm auf. Im Geist ergänzte er die Szene um Alis Mutter, stellte sich vor, wie sie neben ihm stand, vielleicht sogar seine Hand hielt, wie beide Alis Bewegungen zur Musik verfolgten. Vielleicht würde Frankie auch mit ihrer Tochter tanzen. Vielleicht würde sie ihm von der Gruppe der Tänzer einen Blick herüberschicken. Die Musik würde alle ihre Sorgen und Nöte vertreiben und sie so stark machen, wie sie in Wirklichkeit war, wenn sie auch noch nicht so weit war, es selbst zu begreifen. Vielleicht würde sie es begreifen, wenn sie dies sehen und hören könnte.
    Doch dann schüttelte er den Kopf. Sicher, irgendwann würde sie es begreifen. Doch er würde nie bei ihr sein. Zu viele unerledigte Dinge hingen über seinem Kopf wie das Schwert des Damokles. Und außerdem - was sollte eine solche Frau mit einem Kerl wie ihm anfangen? Schließlich hatte sie diese ganze Katastrophe schon mit Earl Shaw durchgemacht, zum Teufel.
    Daß dies sosehr schmerzte, überraschte ihn selbst - daß er so über Frankie dachte, daß es ihm so weh tat, keine Hoffnung auf eine Beziehung haben zu können.
    Welcher Mann führte auch ein solches Leben wie er? Und wofür? Sobald diese pezzi di merde keine Verwendung mehr für dich hatten, ließen sie dich fallen wie eine heiße Kartoffel. Da zählte es auch nichts mehr, wie loyal du gewesen warst. Es zählte nicht mehr, welche Drecksarbeiten du für sie erledigt hattest.
    Die Musik spielte einen Springtanz, der seine Stimmung nur noch verschlimmerte. Dabei bedauerte er nicht das, was gewesen war, sondern nur, was hätte gewesen sein können. Er trauerte um all die Dinge, die er verloren hatte, weil er in dieses Geschäft hineingeboren worden war. Den ganzen Mist - das Geld, den Ruhm, den Respekt -, das alles würde er gern dahingeben, nur um ein Kind wie Ali seine Tochter, eine Frau wie ihre Mutter

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