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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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Geheimnis, das sich an diesem Abend lüften sollte.
    Als er daran dachte, was Lewis gesagt hatte - daß nämlich das Mysterium immer das widerspiegelte, was man ihm darbot -, wuchs sein Unbehagen nur noch mehr. Was immer es in ihm selbst finden mochte, es war bestimmt nicht friedvoll. Dafür hatte er zuviel Mist verzapft. Er schleppte zuviel Scheiße mit sich herum. Die Narben, die seine Jahre in der fratellanza in ihm hinterlassen hatten, waren noch nicht verheilt. Vielleicht würden sie niemals heilen. Ganz sicher nicht, wenn er in einem Haus leben mußte, das vor Artillerie nur so strotzte, und wenn er ständig mit einer Automatik in seiner Jacke herumlaufen mußte.
    Er berührte das kühle Metall der Waffe und zog schnell die Hand aus der Tasche. Er bereute es, die Pistole mitgenommen zu haben, und war trotzdem froh darüber.
    »Es ist ein alter Stein«, sagte Lewis plötzlich. Seine Stimme war leise, und doch zuckten sie in der Stille zusammen, als er sprach. »Es gibt ihn schon länger, als wir in diesem Land leben - vielleicht sogar länger als die Eingeborenen hier. Er ist nicht wie andere Steine in der Gegend. Was es mit ihm auf sich hat, wußte nicht einmal Ackerly Perkin. Vielleicht haben ihn die Wikinger, deren Anwesenheit in diesem Land lange vor Kolumbus’ Entdeckung von Amerika von den meisten Historikern geleugnet wird, für Thor oder Odin errichtet. Vielleicht wurde er auch von den Kelten aufgestellt. Angeblich sind sie auch um diese Zeit hier gewesen. Oder er wurde von Leuten errichtet, die schon lange vor allen anderen hier gewesen sind. Ich fürchte, das werden wir nie erfahren.«
    »Noch ’n Mysterium«, brummte Bannon.
    Lewis nickte. »Oder ein Teil des anderen.«
    »Die Indianer versuchten sich auch als Steinmetze«, erklärte Ali. »Ich habe darüber gelesen; sie schufen große Steinkreise oder aufrecht stehende Steine.«
    »Aber nicht so hoch im Norden«, sagte Bannon. »Und außerdem ist nicht bewiesen, daß sie es waren, die sie gestalteten.«
    Ali und Valenti betrachteten ihn plötzlich mit ganz anderen Augen. Wir wissen wirklich kaum etwas von ihm, dachte Valenti.
    »Das ist wahr. Aber dieser Stein ist anders. Sie werden sehen«, erklärte Lewis.
    Ehe sie dieses Thema vertiefen konnten, gab es Bewegung auf dem Pfad, der zu dem Stein führte. Ein wölfisch aussehender Hund trottete an ihnen vorbei den Pfad hinauf, blieb kurz zum Schnuppern stehen, lief zurück, um sich zu versichern, daß sein Herr ihm folgte, und tauchte nach kurzer Zeit wieder auf. Lewis’ Besucher musterten den Knaben, der dem Hund folgte. In der hereinbrechenden Dunkelheit konnten sie ihn nur undeutlich erkennen. Er hatte ein grobknochiges Gesicht und struppige Haare. Ohne Hast stapfte er an ihnen vorbei. Er hatte es offenbar nicht eilig, zu seinem Ziel zu gelangen - wo immer das lag. Er gönnte den vier Personen vor Lewis’ Hütte nur einen kurzen Blick.
    Ali versetzte Valenti einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen. »Das ist der Junge aus dem Garten«, flüsterte sie.
    Valenti nickte. Auch er hatte ihn erkannt.
    »Sein Name ist Tommy Duffin«, sagte Lewis.
    »Tommy ...?« Ali runzelte die Stirn. »Sie meinen, das ist der, der die Musik spielt?«
    Als Lewis nickte, versuchte Ali, sich den Jungen genauer anzusehen, aber er war schon zu weit den Pfad hinaufgestiegen. Er scheint nicht viel älter zu sein als ich, dachte sie. Aus ihrer ersten Begegnung am Nachmittag schloß sie, daß er nicht besonders klug sein konnte. Und auch nicht besonders freundlich war. Und er sollte derjenige sein, der diese sagenhafte Musik machte?
    »Er macht doch nicht ... Sie wissen schon ...« Ali zögerte. Sie wußte nicht, wie sie sich ausdrücken sollte, ohne die falschen Worte zu benutzen.
    »Er sieht nicht aus, als sei er was Besonderes, ich weiß«, sagte Lewis. »Es ist schon merkwürdig. Ich habe nie verstanden, warum immer einer von den Duffins der Flötenspieler war. Eine weitere Facette des« - er warf Bannon einen Blick zu - »Mysteriums, vermute ich. Doch Tommy wird zu einem ganz anderen, sobald er das Schilfrohr an die Lippen setzt. Seine Augen verlieren den leeren Blick, sein Gesicht scheint schmaler und angespannter zu werden. Es ist etwa so wie mit dem Dorf. Es hat etwas an sich - wie eine Aura, die Fremde ausschließt. Sie können schnurstracks auf New Wolding zumarschieren, doch irgendwie werden ihre Füße vom rechten Weg abgebracht, und sie erreichen uns nie.«
    »Aber wir haben doch auch hergefunden«, gab Valenti

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