Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
Günstlinge des Schicksals bezeichnen –
die frevlerischerweise Tagesangriffe der britischen Luftwaffe herbeiwünschten, um in der Beauchampskapelle wieder zusammenzukommen.
Was Boris nicht ahnte, wohl auch nie erfuhr: Leni geriet in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten. Bedenkt man, daß ihr Lohn
monatlich kaum mehr als ein halbes Pfund Kaffee wert war, die Einnahmen aus ihrem Haus etwa einhundert Zigaretten, daß ihr
Kaffeeverbrauch aber ungefähr bei zwei Pfund, ihr Zigarettenverbrauch, rechnet man das, was sie irgend jemand immer »zustecken«
mußte, hinzu, wohl bei drei- bis vierhundert lag, so wird jedermann einsehen, daß hier eins der simpelsten wirtschaftlichen
Gesetze mit lawinenhafter Geschwindigkeit sich zur Geltung brachte: erhöhte Ausgaben bei geringen Einnahmen. Exakt oder mit
an absolute Exaktheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgerechnet, brauchte Leni, um ihren Haushalt mit Kaffee, Zucker, Wein,
Zigaretten und Brot zu versorgen – die Angaben richteten sich nach den Börsenkursen des Jahres 44, fast vier-, manchmal fünftausend
Mark im Monat. Ihre Einnahmen, Lohn und Mieten, betrugen etwa eintausend; die Folgen sind klar ersichtlich: Schulden. Rechnet
man noch hinzu, daß sie von April 1944 an den Aufenthaltsort ihres Vaters erfuhr und auch ihm hin und wieder auf komplizierten
Umwegen etwas »zukommen lassen« wollte, so stieg ihr Monatsetat |279| etwa ab Juni 44 auf fast sechstausend Mark Ausgaben, denen tausend Mark Einnahmen gegenüberstanden. Ersparnisse hatte sie
nie gemacht, und auch ihr eigener Verbrauch, bevor Boris und ihr Vater zusätzliche Ausgaben erforderlich machten, hatte ihre
Einnahmen weit überschritten. Kurz und gut: nachweisbar ist, daß sie im September 1944 bereits zwanzigtausend Mark Schulden
hatte und ihre Gläubiger ungeduldig wurden. Gerade um die Zeit nahm ihre Verschwendungssucht eine neue Dimension an: sie begehrte
so luxuriöse Artikel wie Rasierklingen, Seife, sogar Schokolade – und Wein, immer wieder Wein.
Dazu Lotte H.: »Mich hat sie ja nie angepumpt, weil sie wußte, daß ichs schwer genug hatte mit den beiden Kindern. Im Gegenteil:
mir hat sie hin und wieder was zugesteckt, Brotmarken und Zucker, auch mal Tabak oder ein paar Aktive. Nein, nein. Sie war
schon recht. Sie kam nur noch selten nach Hause zwischen April und Oktober, und man konnte es ihr ansehen, daß sie jemand
hatte, der sie liebte und den sie liebte. Wir wußten natürlich nicht, wers war, und dachten alle, sie hätte ihr Rendezvous
in Margrets Wohnung. Ich war ja auch schon damals seit einem Jahr nicht mehr in der Firma, war beim Arbeitsamt, später bei
der Obdachlosenfürsorge und verdiente gerade so viel Kröten, daß ich meine Sachen auf Marken kaufen konnte. Die Firma war
reorganisiert worden, ein ganz neuer strammer Kerl aus dem Ministerium übernahm die Leitung nach Juni 43, und wir nannten
ihn alle ›neuer Wind‹, weil er, Kierwind hieß er, immer davon sprach, ›die gute alte Gemütlichkeit zu lüften und den Mief
aus der Bude zu lassen‹! Zu diesem Mief gehörten auch mein Schwiegervater und ich. Er sagte ganz offen zu mir: ›Ihr beiden
seid hier schon zu lange, viel zu lange – und ich will keinen Ärger mit euch haben, wenn wir jetzt Schanz- |280| und Festungsarbeiten an der Westgrenze machen müssen. Da wirds hart zugehen, mit Russen, Ukrainern und Russinnen und deutschen
Strafsoldaten. Das ist nichts für euch. Am besten geht ihr freiwillig.‹ Kierwind war die klassische forsche Type, zynisch
und doch nicht so ganz unnett – den Typ gabs ja häufig. ›Ihr riecht ja alle noch nach Gruyten.‹ Wir gingen also, ich zum Arbeitsamt,
mein Schwiegervater zur Bahn, als Buchhalter. Nun, ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll – ob Hoyser damals seinen wahren
Charakter zeigte oder ob sich dieser Charakter an den Umständen gebildet hat. Er wurde ziemlich gemein, und das ist er bis
heute geblieben. Höllisch wäre eine ziemlich milde Bezeichnung für die Zustände in unserer Wohnung. Wir hatten ja zuerst nach
Gruytens Verhaftung eine Art Wohn- und Kochgemeinschaft, zu der wir den Heinrich Pfeiffer hinzunahmen, der damals noch auf
seine Einberufung wartete. Zunächst besorgten Marja und meine Schwiegermutter die Einkäufe, versorgten die Kinder, Marja fuhr
ja auch mal hin und wieder aufs Land, nach Tolzem oder Lyssemich, und brachte wenigstens Kartoffeln und Gemüse mit, manchmal
sogar ein Ei. Das
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