Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
Gutachters sind anonym geblieben,
es wurde lediglich von der resp. jungen Dame gesagt, der Gutachter werde von DGB-Funktionären und Arbeitsrichtern gleichermaßen
geschätzt.
»Der Gutachter (der sich im folgenden mit G. abkürzt) kannte den Lev Borrisovič Gruyten (im folgenden L. B. G. genannt) schon
aus einem Kontaktgespräch, das vier Monate vor dessen Inhaftierung auf Veranlassung des Personalchefs der städt. Straßenreinigungsbetriebe
stattfand. Beim ersten Gespräch stand die mögliche Beförderung des L. B. G. in die innerbetriebliche Verwaltung mit je halbtägiger
Verwendung als Vertrauensmann der zahlreichen ausländischen Arbeiter und Timing-Berater zur Sprache. Für beide Tätigkeiten
wurde L. B. G. zum damaligen Zeitpunkt vom G. empfohlen, jedoch wurden beide Tätigkeiten von L. B. G. abgelehnt. Der psychologische
Werdegang des L. B. G. konnte damals nur oberflächlich, datenhaft erfaßt, inzwischen aber, da die Gefängnisverwaltung entgegenkommenderweise
vier weitere, je einstündige Gespräche ermöglichte, erheblich intensiver erforscht werden, wenn auch noch nicht detailliert
genug, um einer so kompliziert strukturierten Person nach wissenschaftlichen Maßstäben gerecht zu werden. Gewiß wäre L. B.
G. einer ausführlichen, intensiven wissenschaftlichen Arbeit wert. Der G., inzwischen Lehrbeauftragter für Psychologie an
einer |459| Fachhochschule, erwägt denn auch, einem seiner Schüler L. B. G. als Thema einer Diplomarbeit zu empfehlen.
Der Versuch eines Psychogramms, der hier an L. B. G. vorgenommen wird, mag also, mag er auch ein annähernd korrektes Bild
vermitteln, mit der gebotenen Einschränkung, was seine wissenschaftliche Verwendbarkeit betrifft, aufgenommen werden. Es kann
lediglich der innerbetrieblichen Orientierung möglicherweise erleichternd im weiteren Umgang mit L. B. G. und mit der oben
erwähnten Einschränkung als ein Versuch dienen, die Motive des L. B. G. bei seinen ›kriminellen‹ Handlungen zu erklären.
L. B. G. wuchs unter extrem ungünstigen Umständen, was seine außerfamiliäre Umwelt, unter extrem günstigen, was seine familiäre
Umwelt betrifft, auf. Bedarf das im letzteren Falle angewendete ›günstig‹ auch einer Einschränkung, die mit dem Wort ›Verwöhnung‹
angemessen bezeichnet wäre, so ist – betrachtet man den heute Fünfundzwanzigjährigen – eben diese ›Verwöhnung‹ ein Grund dafür,
daß L. B. G., wenn auch erhebliche gesellschaftliche Störungen vorliegen, als durchaus nützliches, ja erfreuliches Glied unserer
Gesellschaft zu betrachten ist.
Extrem ungünstig waren für L. B. G. u. a. die Tatsachen, daß er, da unehelich und ohne Vater aufwachsend, weder die für den
psychologischen Werdegang wichtige Basis des Waisen noch gar des Kriegswaisen für sich beanspruchen konnte. Für das uneheliche
Kind ist der verstorbene Vater kein Waisenkind-Alibi. Da er außerdem auf der Straße und in der Schule ›das Russenkind‹ gerufen,
seine Mutter zeitweise ›das Russenliebchen‹ geschimpft wurde, wurde ihm, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch unbewußt, die
Tatsache, daß er nicht durch Vergewaltigung, sondern in freiwilliger Hingabe gezeugt war, als besonders schmutzig und erniedrigend
ständig vorgehalten. |460| Er war unter Umständen gezeugt, die für seinen Vater und seine Mutter hohe, wenn nicht Todesstrafe zur Folge hätte haben können.
In diesem Sinne war er auch noch ein ›Sträflingskind‹. Alle anderen Kinder, selbst die unehelichen, hatten die psychologische
Möglichkeit, sich als ›Gefallenenkinder‹ gesellschaftlich einen Rang höher zu fühlen als L. B. G. Es kam, um es populär auszudrücken,
noch schlimmer für ihn: er wurde im gesteigerten Maß ein Opfer jener (wie der G. in mehreren Publikationen auch öffentlich
dargetan hat!) mißlichen Einrichtung, die man Konfessionsschule nennt. Zwar war er getauft, sogar katholisch, und es wurde
diese Taufe auch von einem gewissen Pelzer, der später vorübergehend sein Lehrherr war, sowie von anderen Personen bestätigt,
doch bestanden die kirchlichen Behörden darauf, diese ›Nottaufe‹ als reguläre Taufe zu wiederholen. Die intensiven, pedantischen
und peinlichen Recherchen, die in diesem Zusammenhang vorgenommen wurden, brachten L. B. G. einen weiteren, höchst makabren
Beinamen ein. Er war ja außerdem noch ein ›Friedhofs-‹, er war ein ›Gruftkind‹, er war ›zwischen Leichen gezeugt und
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