Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
Haar geschnitten und ein wenig grau gefärbt und könnte glatt für
achtunddreißig durchgehen; ihre dunklen Augen klar, nicht ohne Trauer, und obwohl sie nachgewiesenermaßen 1,71 m groß ist,
wirkte sie wie 1,85 m, obwohl ihre langen Beine gleichzeitig bewiesen, daß sie keineswegs eine Sitzschönheit ist. Mit Anmut
übernahm sie das Ausgießen des Kaffees, während Lotte Kuchen auf die Teller tat und Mehmet je nach Wunsch: »Einen Löffel?
zwei? drei?« die unvermeidliche Schlagsahne verteilte. Leni, das wurde klar, ist nicht nur schweigsam und verschwiegen, sie
ist geradezu wortkarg und von einer Schüchternheit, die ständig als »banges Lächeln« auf ihrem Gesicht sitzt. Sie betrachtet
– was den Verf. mit Stolz und Freude erfüllt – K. wohlgefällig und wohlwollend; von jener nach Haruspica gefragt, wies sie
auf das nun tatsächlich imponierende Wandbild, das – nicht bunt, sondern farbig – eineinhalb mal eineinhalb Meter groß über
dem Sofa hängt, und – wenn auch unvollendet – eine unbeschreibliche kosmische Wucht und Zärtlichkeit ausstrahlt; nicht viel-,
sondern nachzählbar achtschichtig hat sie ihr unvollendetes Lebenswerk angelegt – sie mag von den sechs Millionen Zäpfchen
inzwischen vielleicht dreißigtausend, von den einhundert Millionen Stäbchen etwa achtzigtausend |454| eingetragen haben – sie hat den Querschnittcharakter vermieden, statt dessen hat sie es horizontal angelegt, wie eine unendliche
Ebene, über die man hinwegschreitet, einem noch zu bildenden Horizont entgegen. Leni: »Das ist sie, vielleicht ein Tausendstel
ihrer Netzhaut, wenns fertig ist.« Sie wurde fast gesprächig, indem sie hinzufügte: »Meine große Lehrerin, meine große Freundin.«
Mehr sprach sie nicht innerhalb der etwa dreiundfünfzig Minuten, die dieser Besuch dauerte. Mehmet wirkte vergleichsweise
humorlos, selbst wenn er Sahne austeilte, ließ er mit der freien Hand Lenis Hand nicht los, und wenn Leni Kaffee einschenkte,
zwang er sie, das einhändig zu tun, indem er ihre freie Hand festhielt. Diese Händchenhalterei war so ansteckend, daß schließlich
auch K. dazu überging, des Verf. Hand zu halten, so, als fühle sie ihm ständig den Puls. Es war nicht zu bezweifeln: K. war
ergriffen. Von ihrem akademischen Hochmut keine Spur mehr, es war deutlich zu spüren, sie hatte von Leni gewußt, aber nicht
an sie geglaubt; in den Ordensdossiers figurierte sie, aber daß es sie gab, und zwar wirklich gab, erschütterte sie. Sie seufzte
schwer und übertrug ihren erhöhten Puls auf den Verf.
Bemerkt der ungeduldige Leser, daß hier massenhaft Happy-Ends stattfinden? Händchen gehalten, Bünde geschlossen, alte Freundschaften
– wie die zwischen Lotte und Bogakov – erneuert werden, während andere – Pelzer, Schirtenstein und Scholsdorff etwa – durstig
und hungrig auf der Strecke bleiben? Daß ein Türke, der aussieht wie ein Bauer aus der Rhön oder der Zentraleifel, die Braut
heimführt? Ein Mensch, der zu Hause bereits eine Frau und vier Kinder sitzen hat und auf Grund polygamer Rechte, von denen
er weiß, die er aber bisher nicht hat wahrnehmen können, nicht einmal die Andeutung einer Spur von schlechtem Gewissen dabei |455| entwickelt, möglicherweise sogar irgendeiner Suleika offen mitgeteilt hat, wie die Dinge stehen? Ein Mann, der verglichen
mit Bogakov und dem Verf. geradezu aufreizend sauber wirkt, geschrubbt geradezu: mit Bügelfalte, Krawatte; dem ein gestärktes
Hemd geradezu Wonne bereitet, weil es für ihn zur Feierlichkeit des Anlasses gehört? Der immer noch dasitzt, als habe der
fiktive Fotograf in Künstlerhut und mit Künstlerhalsbinde, ein verhinderter Maler irgendwo in Ankara oder Istanbul ungefähr
im Jahr 1889, immer noch den Finger auf dem Gummiball? Ein Müllarbeiter, der Mülltonnen rollt, hochhebt, auskippt, in Liebe
verbunden mit einer Frau, die um drei Männer trauert, Kafka gelesen hat, Hölderlin auswendig kennt, die Sängerin, Pianistin,
Malerin, Geliebte, vollendete und werdende Mutter ist, die den Pulsschlag einer ehemaligen Nonne, die sich zeitlebens mit
dem Problem der Wirklichkeit in literarischen Werken herumgeschlagen hat, höher und höher schlagen läßt?
Selbst die mundfertige Lotte war schweigsam, als wäre auch sie bewegt, erregt, erschüttert; stockend erzählte sie von Levs
bevorstehender Entlassung, den daraus sich ergebenden Wohnungsproblemen, da ihr Hausbesitzer sich geweigert habe,
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