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Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Titel: Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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geboren‹.
     Kurz: seine Mutter weigerte sich, ihn noch einmal taufen zu lassen, da ihr die Erinnerung an diese Taufe, an der L. B. G.s
     Vater teilgenommen hatte, teuer war; sie wollte die Erinnerung an diese Taufe nicht durch ›irgendeinen‹ auslöschen lassen,
     wollte aber andererseits ihren Sohn nicht in die damals etwa fünfzehn Kilometer entfernte ›freie Schule‹, wollte ihn noch
     weniger zu den ›Protestanten‹ schicken (wobei gar nicht geklärt wurde, ob jene nicht auch auf einer Neu-Taufe bestanden hätten),
     und so bekam L. B. G. den letzten, allerletzten Makel: war er nun ein ›Christ‹, war er ein ›Katholik‹, oder war er keiner?
    Angesichts dieses Hintergrundes gewinnt der Terminus ›Verwöhnung‹ eine Relativität, die ihn fast aufhebt. So |461| hatte L. B. G. denn auch ›Tanten‹ genug: Tante Margret, Tante Lotte, Tante Liane, Tante Marja, er hatte vor allem seine Mutter,
     lauter Frauen ›verwöhnten‹ ihn; er hatte außerdem ›Onkel‹ und ›Vettern‹, Vater- und Bruderersatzfiguren, die Onkel Otto und
     Pjotr, die Vettern Werner und Kurt, er hatte die Erinnerung an seinen leiblichen Großvater, mit dem er ›jahrelang am Rhein
     gesessen hat‹. Es kann nachträglich als ausgesprochen gesunde instinktive Reaktion betrachtet werden, daß seine Mutter ihn
     sooft wie möglich, wenn auch manchmal unter fadenscheinigen Umständen, vom Schulunterricht fernhielt. Hat L. B. G. auch eine
     erstaunliche psychische Kraft bewiesen, indem er sich freiwillig aus dem ›Verwöhnungsbereich‹ entfernte, zum Spielen auf die
     Straße ging, sowohl passive wie aktive Prügel nicht scheute, es ist zu bezweifeln, ob er den täglichen Druck der Schule ertragen
     hätte. Wäre – dies als Hypothese – L. B. G. auch nur andeutungsweise mißgebildet oder kränklich gewesen, er hätte diesem massiven
     vielschichtigen Druck der Umwelt nicht über das vierzehnte Lebensjahr hinaus standgehalten: Suizid, unheilbare Depression
     oder Aggressionskriminalität wären die Folgen gewesen. L. B. G. hat vieles tatsächlich verwunden, ebenso vieles verdrängt.
     Was er weder verwinden noch verdrängen konnte, war die Tatsache, daß sein bis dahin so freundlicher ›Onkel‹ Otto ihn letzten
     Endes der Gesellschaft seiner beiden ›Vettern‹ Werner und Kurt beraubte, die, fünf bzw. zehn Jahre älter als er, für ihn jenen
     Schutz darstellten, den er sich nicht konstruieren mußte, auf den er sich verlassen konnte. Die inzwischen entstandene soziale
     Kluft zwischen ihm und seinen Vettern, Rache und Trotz sind denn auch eindeutig die Anlässe für seine ›Kriminalität‹, die
     in der ungeschickten Fälschung zweier Wechsel bestand, wobei auch nach insgesamt fünf Interviews für den G. unklar geblieben
     ist, ob das Ungeschickte an diesen Fälschungen als bewußte |462| oder unbewußte Provokation des Onkels und der Vettern aufgefaßt werden muß. Da diese Fälschungen zu wiederholten (insgesamt
     vier) Malen stattfanden, dreimal vertuscht, erst beim viertenmal Gegenstand einer Anzeige wurden, alle vier Fälschungen hingegen
     den gleichen Fehler enthielten (falsches Ausschreiben der Rubrik: In Worten), liegt die Vermutung nahe, daß es sich um eine
     bewußte Provokation handelt, die im Zusammenhang mit der inzwischen erfahrenen Verschiebung der Gruytenschen und Hoyserschen
     Vermögensverhältnisse während des Krieges gesehen werden muß.
    Wie glich nun L. B. G. als Kind und als Heranwachsender seine Verletztheit aus? Daß der innerfamiliäre Ausgleich, der hier
     pauschal als ›Verwöhnung‹ bezeichnet wurde, nicht ausreichen konnte, daß L. B. G. auch eigene Initiative entwickeln mußte,
     daß er besonders nach dem Wegzug der beiden ›Vettern‹ sich nicht auf seine Mutter und die zahlreichen Tanten verlassen konnte,
     muß ihm instinktiv klargewesen sein, daß er letzten Endes doch ›der Mann im Haus‹ würde werden müssen, muß ihm schon früh
     angesichts der Hilflosigkeit und Verletzlichkeit seiner Mutter bewußt geworden sein.
    Es muß schon hier der Begriff der Leistungsverweigerung eingeführt werden (im folgenden Lvw. genannt). Zunächst: Lvw. in der
     Schule, wo er zeitweise zur Abschiebung in eine Hilfs- bzw. Sonderschule anstand. Seiner unbezweifelbaren Begabung und Intelligenz
     entgegen benahm er sich so, wie es die Gesellschaft auf Grund ihrer Automatik von einem derart mit asozialen Merkmalen überhäuften
     Jungen erwartete. Er war als Schüler weitaus schlechter, als er

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