Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
hätte sein müssen, ja, er simulierte bis zu einem gewissen
Grad den Schwachsinnigen. Er vermied das Sitzenbleiben nur dann, wenn es wegen Wiederholung die Hilfsschule gefährlich nahebrachte,
und dies – die Abschiebung in die Hilfsschule – vermied er nur, weil |463| seine Mutter sich über den weiten Schulweg ängstigte. Er gestand dem G., daß er ›gern in die Hilfsschule‹ gegangen wäre, die
aber lag zur fraglichen Zeit in einem weit entfernten Vorort, und da seine Mutter ja berufstätig war und L. B. G. schon früh
Haushaltsfunktionen übernahm, hätte allein der weite Heimweg ›den Ablauf zu Hause‹ erheblich gestört.
Mit der Lvw. in der Schule parallel verlief eine trotzhaft bedingte Leistungssteigerung (im folgenden Lstg. genannt), die
ihm schulisch nichts ›einbrachte‹. Als Dreizehnjähriger konnte er auf Grund eines sehr freundlichen Entgegenkommens eines
Bekannten seiner Mutter und seines Großvaters, der ihn wöchentlich dreimal unterrichtete, fließend Russisch lesen und schreiben.
Man bemerke: die Sprache seines Vaters! Er – man müßte hier sagen können – überraschte, aber angesichts der psychologischen
Grundsituation des Durchschnitt-Elementarschulpädagogen zur fraglichen Zeit muß man leider sagen, verärgerte seine Lehrer,
indem er russische Lyrik zitierte von Puschkin bis Blok, während er gleichzeitig in deutscher Grammatik auf einem hilfsschulreifen
Niveau verharrte. Doch als nicht nur ärgerlich, als geradezu provozierend mußte es empfunden werden, daß er – als Dreizehnjähriger
inzwischen bis ins fünfte Schuljahr gediehen! – seine Lehrer auch noch – und ungefragt dazu! – mit Kafka, Trakl, Hölderlin,
Kleist und Brecht konfrontierte und mit den Gedichten eines bisher nicht identifizierbaren, englisch schreibenden Dichters
wahrscheinlich irischer Abkunft.
Genug der Beispiele. Der G. stellt fest: eine extreme Polarisierung der Gesellschaft gegenüber findet statt, indem dort, wo
Leistung etwas ›einbringen‹ könnte, in der Schule, Lvw., gleichzeitig aber dort, wo Leistung nichts ›einbringen‹ kann, außerhalb
der Schule, Lstg. praktiziert wird.
|464| Diese extreme Polarisierung bleibt bestimmend für L. B. G.s Leben. Sie ist, da er älter wird und sich in einer gesunden Reaktion
von den ›Verwöhnungen‹ befreit, die Spannung, aus der er Widerstand und Überlebenskraft bezieht. Das Erlebnismodell ändert
sich bis zum vierzehnten Lebensjahr nicht mehr erheblich. In diesem Lebensjahr, kurz vor der Schulentlassung, wird L. B. G.
zum erstenmal ›kriminell‹, in einem Zusammenhang, den der G. leider nur referieren, den er nicht exakt analysieren kann, da
ihm der innere und äußere Zugang zum zitierten Erlebnismaterial fehlt und eine genaue Analyse ein umfangreiches religionspsychologisches
und geschichtliches Studium voraussetzen würde. So werden also hier nur die Erlebnisdaten zitiert: Dem L. B. G., der nur sporadisch
und meistens unter für ihn und die Geistlichen ärgerlichen Umständen am Religionsunterricht teilgenommen hat, wurden – ich
bediene mich seines Ausdrucks – ›die Sakramente Beichte und Kommunion verweigert, damals nicht einmal mehr so sehr meiner
mangelhaften Taufe wegen, sondern weil man mich als renitent, hochmütig, überheblich, jedenfalls als nicht demütig genug empfand
und ich mich außerdem ein wenig, wenn auch natürlich laienhaft, aber intensiv und wirklich wißbegierig mit religiöser Literatur
befaßt hatte. Das reizte die Lehrer, ich meine die geistlichen Religionslehrer‹, da man die ›Spendung der Sakramente‹ von
seiner ›Unterwerfung‹ abhängig machte. L. B. G. aber, der – wie er zugab – jetzt schon aus prinzipiellen und mystischen Erwägungen
auf deren Spendung bestand, brachte sich schließlich durch ›eine sakrilegische Handlung, durch Raub, genau gesagt Altarschändung‹
in den Besitz geweihter Hostien, die er verzehrte. Es gab einen Skandal. L. B. G. wäre damals schon, hätte sich nicht ein
aufgeklärter und psychologisch erfahrener Geistlicher für ihn verwandt, in Jugendhaft gekommen. ›Von da an‹, L. B. G. wörtlich
zum G., ›kommunizierte |465| ich nur noch mit meiner Mutter morgens beim Frühstück.‹
Eine weitere Lstg. wird bis zum vierzehnten Lebensjahr sichtbar: eine fast schon anankastische Komponente, eine gesteigerte
Ordnungsliebe, ein Drang aufzuräumen, der zweifellos mit der beginnenden Pubertät zusammenhängt. Er
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