Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
säubert nicht nur die
Straße vor dem Haus, den Vorgarten, die Wohnung, er greift sogar bei Spaziergängen ordnend und aufräumend ein, indem er Blätter
aufhebt, und obwohl man ihm das in einer vorwiegend weiblichen Umwelt als ›weibisch‹ oder ›mädchenhaft‹ auslegt, ist sein
Lieblingsspielzeug zwischen seinem achten und dreizehnten Lebensjahr jede Art von Besen. Als ergänzende psychologische Erklärung
für dieses Phänomen könnte noch gesagt werden, daß hier einer ihn ständig beschimpfenden beschmutzenden Umwelt gegenüber Reinlichkeit
– wiederum als Polarisierungshilfe – demonstriert und praktiziert wird.
L. B. G., aus der sechsten Klasse schulentlassen, hatte mit seinem nicht sehr wohlwollend zurechtinterpolierten Zeugnis keine
Chance, eine normale Lehrstelle zu bekommen. Er arbeitete als Hilfskraft – wiederum hauptsächlich mit dem Besen! – in der
Gärtnerei eines gewissen Pelzer, später bei einem gewissen Grundtsch in gleicher Funktion, wurde dann von der Friedhofsverwaltung
übernommen, später von dort zur städtischen Müllabfuhr versetzt, auf deren Kosten er den Führerschein machte. Dort ist er
seit sechs Jahren beschäftigt, sieht man von einer gewissen Neigung zur Wochenend- und Urlaubsverlängerung ab, zieht man dann
den gewiß verständlichen Groll wegen offensichtlich vorliegender Lvw. ab, so ist sein derzeitiger Arbeitgeber durchaus mit
ihm zufrieden. L. B. G.s Lstg. galt in den vergangenen sechs Jahren ausschließlich seiner Mutter, der er zuriet, ihre Arbeit
aufzugeben, obwohl sie eine noch relativ junge |466| und leistungsfähige Person ist. Ihr führte er ausländische Arbeiter und deren Familien als Untermieter zu. Daß einer dieser
Arbeiter schließlich ihr Liebhaber wurde, rief bei L. B. G., dessen extrem heftige Mutterbindung als unbestritten gelten muß,
verdächtig wenig Konflikt hervor. Selbst die Mitteilung, daß seine Mutter nun nachweislich von dem Ausländer orientalischen
Ursprungs schwanger sei, rief ein freies, der G. möchte behaupten, verdächtig freies ›Gott sei Dank, dann bekomm ich ja noch
ein Brüderchen oder Schwesterchen‹ hervor, in dem, wenn auch nur bei geübtem Zuhören, jedoch deutlich eine gewisse Verkrampfung
herauszuhören war.
Es wäre falsch, diese Verkrampftheit lediglich als im ödipalen Bereich verwurzelt zu betrachten. Gewiß liegt ihr auch eine
gewisse verständliche Angst vor erneuten Umweltschwierigkeiten zugrunde, in die L. B. G. gewiß das zu erwartende Kind einbezieht,
mit dessen zu erwartenden Umweltschwierigkeiten er sich zweifellos auf Grund der eigenen Erfahrung identifiziert.
Der gewiß naheliegende Verdacht der Eifersucht kann hier zwar nicht ausgeschlossen, doch kann er auf ein Mindestmaß reduziert
werden. Nachforschungen bei Gleichaltrigen und Arbeitskameraden des L. B. G. ergaben, daß er nicht nur bei Frauen und Mädchen
beliebt ist, sondern den Konsequenzen dieser Beliebtheit auch nicht ausweicht.
Es muß hier als vorausgesetzt gelten, daß die Arbeiter der Müllabfuhr gelegentlich Sonderwünsche der durch Konsummüll bedrängten
Bevölkerung erfüllen, wobei sich nicht vorgesehene Kontakte ergeben. Derlei ›Vergehen‹– Sonderwünsche der Bevölkerung, Müll
über das ihr zustehende Maß, meistens gegen ein Trinkgeld, mitzunehmen – werden von der Verwaltung angesichts der Notlage
in puncto Mülltonnage geduldet.
|467| So relativ harmonisch das bisher gegebene Bild des L. B. G. erscheinen mag, so liegen doch eindeutig gesellschaftliche Störungen
vor, die sich, wenn sie auch durch die notwehrbedingten Polarisierungszwänge erklärbar sind, eben doch als solche darstellen.
Was bei L. B. G. selbst für einen psychologischen Laien sichtbar wird, ist 1. Ein Solidaritätskomplex , der aus dem permanenten Zwang zur Identifikation mit seinem Vater und seiner Mutter erklärlich ist, nun aber bei dem inzwischen
Erwachsenen sich auf Ausländer fixiert, nach inzwischen dreimonatiger Haft auch auf die Mithäftlinge. Nähme man Häftlinge
ebenfalls als ›Fremde in der Gesellschaft‹ an, so ergibt sich aus dem Solidaritätskomplex eine diesem verwandte 2. Xenophilie , die sich u. a. auch in 3. Xenophilologie , dem Wunsch, die Sprache der Fremden zu lernen, ausdrückt. (L. B. G. nimmt schon seit Monaten an einem Türkischkurs teil.)
Eine Person (der G. ist hier eher geneigt als abgeneigt, trotz mancher Bedenken von einer Persönlichkeit zu sprechen) wie
L. B. G.,
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