Grusel Box: Drei Mystery-Thriller (German Edition)
die sich nähernde Gruppe von Geisterjägern um die Ecke gebogen kam, und ließ dann noch ein eindringliches »Miss May?« verlauten, bevor sie mit den Schultern zuckte und die Treppe hinunter ging. Sie blickte auf ihre Armbanduhr.
Zehn Minuten Zeit, um nach Bargeld zu suchen, dann ein Rendezvous an der Bar.
Kapitel 24
»Du machst mich wahnsinnig, Dad.«
Nicht, dass die Tränen von Wayne Wilson so selten und heilig waren wie die Knochen Buddhas oder so etwas, aber Kendra hatte ihn nicht mehr weinen sehen seit – nun, wahrscheinlich seitdem er vor fünf Jahren zum letzten Mal mit dem Trinken aufgehört hatte.
Er hatte geheult, als Mom starb, gewürgt und gejammert. Gelegentlich war ihm ein »Warum nur, Gott?« entschlüpft. Aber manchmal hatte er vor dem Fernseher gesessen und stille Tränen waren seine Wangen hinunter gelaufen, seine Augen so trist wie das Baseballspiel, das er gerade sah. Tränen, die die Farben des Bildschirms widerspiegelten und durch das grüne und blaue Funkeln noch beunruhigender wirkten. Es war die Art von Tränen gewesen, die weder Ursache noch Grund hatte, und sie hatte sich überlegt, ob sie jemals ein Ende nehmen würden.
Diese Tränen hier waren von der gleichen Art. Als ob sie aus Spalten in ausgedörrten Felsenklippen geronnen wären, nachdem sie über viele Kilometer gesickert, gekrochen, getröpfelt waren, um ihren Weg ans Tageslicht zu finden.
Er drehte den Kopf, langsam wie die Puppe eines Bauchredners. Er lächelte, und das war noch unheimlicher.
»Sie ist hier, Liebling«, flüsterte er.
Kendra blickte sich im Zimmer um und erwartete, die dicke Frau in der lindgrünen Bluse zu sehen. Aber der Raum war leer bis auf das Ouija-Brett auf dem Couchtisch.
»Einige der Geisterjäger werden nervös«, sagte sie. »Vielleicht besser, wenn du mal im Kontrollraum vorbeischaust.«
»Wir haben es geschafft«, sagte er mit der gleichen entrückten Stimme. »Jetzt weiß ich es.«
»Was weißt du?«
Dad stand auf, so schwankend, dass Kendra den Atem anhielt und sie mit den Augen nach einer Flasche bei seinen Füßen suchte. Ihr Pflegedienst war Vergangenheit. Sie war Emily Dee, nicht Florence Nightingale.
»Deiner Mutter geht’s gut«, sagte Dad.
»Ich hatte kaum eine Mutter, wenn du dich erinnerst. Bilder und Geschichten, das war alles, was ich hatte, und jetzt hab ich nicht viel mehr von meinem Vater.«
Autsch! Es schmerzte, diese Worte auszusprechen, aber sie fühlten sich auf gewisse Weise auch gut an, weil sie aufrichtig waren. Digger war heutzutage mehr eine erfundene Figur als ein menschliches Wesen. Wenn sie ihn nur genauso leicht ausradieren könnte wie ihre Mutter.
Die verbale Ohrfeige schien Wayne wieder auf den Planeten Erde zurückzuholen. »Ich habe deine Mutter gesehen.«
Ein leises »gaga« war alles, was sie hervorbringen konnte.
Sein Gesicht war ernst, seine Augen änderten ihre Farbe von tristem Grau zu hellem Grün. »Sie stand genau da in der Ecke und sie ... und sie...«
Er senkte den Finger, mit dem er gedeutet hatte. »Sie sagte deinen Namen.«
»Meinen? Also, sie ist tot, sie hat sich verabschiedet, als ich kaum aus dem Kindergarten war, und nun sorgt sie sich um mich?«
Sie hatte die Worte lauter ausgesprochen, als sie beabsichtigt hatte, und sie prallten von den glatten Wänden des Zimmers ab und erzeugten ein Echo in den Badezimmerfliesen. Die Kraft hinter ihnen wurde zu gleichen Teilen aus Angst und Ärger erzeugt, weil sie durch sorgfältige Versuche im Laufe der Jahre Mittel und Wege gefunden hatte, Dad in Rage zu bringen. Aber jetzt schien er jenseits von jeglicher Kontrolle zu sein, bereit für einen Drink und die Gummizelle.
Dad glaubte nicht an Geister. Dad glaubt kaum an sich selbst.
»Mann, ihr beide müsst das perfekte Paar gewesen sein«, sagte sie.
»Nein, aber wir haben das perfekte Kind gezeugt«, sagte er und fummelte an seiner Hüfte nach seinem Walkie-Talkie.
»Dad, hier ist nichts«, sagte sie. »Hier war nie was.«
»Ich habe mein Versprechen gegeben«, sagte er.
»Wann hast du jemals ein Versprechen gehalten? Wie oft hatte die Zahnfee drei Tage Verspätung? Wie oft war ich das einzige Kind, dessen Eltern nicht zum Fußballspiel gekommen sind?«
»Kendra, das ist jetzt nicht der richtige Augenblick, um–«
»Ich weiß. Es ist nie der richtige. Du sagst immer ›eines Tages‹. Falls du es noch nicht bemerkt hast, ich habe Brüste und alle meine bleibenden Zähne und eine vorläufige Fahrerlaubnis und
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