Grusel Box: Drei Mystery-Thriller (German Edition)
gedrängt, was diesen überhaupt nicht störte. Als sie die Straße erreicht hatten, blickte Ronnie zum Haus und seinen Vierecken aus gelbem Licht zurück. Für einen Augenblick lockte ihn das Licht, das Sicherheit und Wärme und die Möglichkeit von Liebe versprach. Aber Liebe konnte man nicht hinter Wänden finden. Man fand sie in Mom und Dad und Jesus.
Als sie die Straße erreichten, schaltete er die Taschenlampe an. Ihr Licht produzierte einen orangenen Kreis auf dem Schotter. Ronnie bewegte seinen Kopf hin und her, die dunklen Seiten neben der Straße auf Bewegungen hin prüfend. Die Geräusche des Waldes wurden durch ihre knirschenden Schritte auf dem Schotter unterdrückt.
»Ich dachte, du magst die Kirche nicht«, sagte Tim.
»Stimmt. Aber wir müssen trotzdem hingehen.«
»Denkst du, dass das, was Boonie Houck und Mr. Potter geschnappt hat–?«
»Nein«, sagte Ronnie zu schnell. »Es ist jetzt nichts hier draußen. Es hat...«
Es hat WAS? Sich vollgefressen und ist in den Glockenstuhl zurückgeflogen?
»Uns wird nichts passieren«, sagte Ronnie.
»Denkst du, dass es das Ding war, das im Kirchturm wohnt?«
»Was für ein Ding?«
»Du weißt schon. Was Whizzer sagt. Das Ding, das Flügel hat und Klauen und Lebern statt Augen.«
»Whizzer ist ein Depp.«
Sie gingen um eine Kurve und waren nun außer Sicht des Hauses. Ronnie konnte den Fluss nicht riechen, aber er konnte seine fischige Feuchtigkeit auf seinem Gesicht fühlen. Sie gingen an der letzten von Potters Wiesen vorbei. Der Stacheldrahtzaun führte in den Wald und die Bäume rückten auf beiden Seiten nah an die Straße heran. Der Mond leuchtete durch eine schmale Lücke zwischen den Baumkronen.
»Warum ist Mom so spät noch in der Kirche?«, fragte Tim. In seiner Stimme war ein Ton des Jammerns zu hören.
»Bin ich Einstein oder was? Musst du so viele dumme Fragen stellen?«
»Wenn ich rede, hab ich weniger Angst.«
Sie gingen nun schneller, und die Anstrengung ließ sie die feuchte Kühle der Frühlingsnacht vergessen. Sie kamen an eine Steigung und wurden langsamer. Eine Seite der Straße neigte sich hinab in die Dunkelheit. Der Fluss brauste unten über Steine und das Gurgeln des Wassers hörte sich an wie ein Erstickender, der nach Atem ringt.
Sie gingen um eine weitere Kurve, dann stand die rote Kirche vor ihnen auf einem Hügel, schwarz im Mondlicht. Der Mond wurde von den Windschutzscheiben der Autos gespiegelt, die um die Kirche herum geparkt waren. Hinter den Autos standen die Grabsteine Spalier wie Soldaten. Der Hartriegel bestand aus schwarzen Knochen und spitzen Fingern und sich streckenden Händen aus Holz.
Der Eingang zur Kirche war geöffnet, ein graues Rechteck in der dunklen Fassade der Kirche. Gelbes Licht flackerte in den Kirchenfenstern, kleine Nadelstiche, die aufblitzten und dann verschwanden. Kerzen , dachte Ronnie. Die Kirche war nie ans Stromnetz angeschlossen worden.
Aus der Kirche war Gesang zu hören, ein Chor aus mehreren Dutzend Stimmen. Die Musik klang ganz anders als die Lieder, die sie in der Ersten Baptistengemeinde sangen. Dieser Gesang war dumpf und unheimlich, so als ob die Hälfte der Leute absichtlich falsch sang. Aber wenn sie von Jesus und Gottes Liebe und Gnade und vom Seelenheil sängen, würde die Musik nicht so unheimlich sein. Ronnie lauschte, aber er konnte die Worte nicht ausmachen.
»Dieses Lied ist unheimlich«, sagte Tim.
»Schhh.« Ronnie fasste Tim am Ärmel und führte ihn an den Waldrand, wo die ersten Autos geparkt waren. Er wollte soweit wie möglich von der dunklen Wand des Waldes entfernt bleiben, aber er zögerte auch, sich dem Friedhof zu nähern. Er zog Tim zu Boden und gemeinsam krochen sie zwischen den Autos hindurch, bis sie in die Kirche sehen konnten. Der Gesang hörte auf.
»Siehst du Mom?«, flüsterte Tim. Ronnie versetzte ihm einen Stoß in die Rippen.
Eine Männerstimme ertönte in der Kirche und ergoss sich in die Nacht.
»Liebe Gemeinde«, schallte die Stimme. In der Pause hustete jemand. Die Stimme fuhr fort: »Wir sind heute Nacht hier versammelt, um den einen wahren Gott zu ehren. Denn er ist ein eifersüchtiger Gott und groß ist die Zahl der Lügen, die uns zu Ohren kommen. Groß ist die Zahl der Versprechen, die uns von denen gemacht werden, die die Gesichter des Bösen tragen. Groß ist die Zahl der Pfade, die uns vom wahren Weg abbringen.«
Ronnie blickte über die Motorhaube des Fahrzeugs, hinter dem sie sich versteckt hatten. Der Motor war noch
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