Guardian Angelinos (03) – Sekunden der Angst
wir erst mal was essen?«
Sie drehte die Flasche auf und nahm einen Schluck.
»Willst du mir nicht erzählen, warum?«
Das Wasser blieb ihr fast im Hals stecken.
Ein bisschen was, Vivi, nicht alles. Keine Geständnisse gegenüber einem Mann, der dich sowieso verlässt.
»Ich hatte eine Abtreibung.« Sie ließ sich in einen der Stühle fallen, so lässig, als wäre das, was sie ihm eben anvertraut hatte, ein Pappenstiel. Dabei hatte sie es bisher noch nie erzählt – niemandem.
»Oh«, sagte er und blickte, immer noch stehend, auf sie hinunter. »Das ist …«
Sie zuckte mit den Achseln und rang um Gelassenheit, die sie absolut nicht verspürte. »Ich weiß, wie es ist, Lang. Es ist schockierend. Enttäuschend. Abstoßend. Ich habe die ganze Bandbreite an Befindlichkeiten durch. Hin und wieder kochen sie wieder hoch – selbst jetzt, nach all den Jahren.«
Er setzte sich langsam und blickte sie prüfend an, während sie mit einer Geste schroffer Entschlossenheit das Essen und die Teller vom Tablett nahm und ihnen Besteck und Servietten hinlegte. Wenn sie sich so verhielt, als wäre es ihr egal, würde er es vielleicht glauben.
»Ich schätze, das war eine sehr schwere Entscheidung«, sagte er schließlich tonlos. Natürlich missfiel ihm, dass sie diese Entscheidung getroffen hatte. »Vor allem für ein Mädchen wie dich.«
Sie war ein anderes Mädchen gewesen, eine andere Vivi. »Ich hatte Angst«, sagte sie, wickelte geistesabwesend den Bademantel fester um sich und griff dann wieder nach dem Wasser. »Ich war sechzehn und hatte eine Scheißangst, die Familie zu verletzen, die mich adoptiert hatte. Ich dachte, sie würden sich von mir abwenden, wegen … meiner Dummheit.«
Und er hat gesagt, ich hätte es darauf angelegt.
»Wirklich?«
»Ich hatte Angst«, wiederholte sie. »Also habe ich das Problem, mit dem ich einfach nicht klarkam, auf Angsthasenart gelöst. Und es nie jemandem gesagt. Nicht mal Zach.«
»Sonst wäre der Typ heute tot.«
»Mausetot, wie du sagen würdest.« Ihr Herz schlug ohne guten Grund doppelt so schnell wie sonst. Was machte es für einen Unterschied, wenn Lang das nicht billigte? Es war legal. Sie hatte es so entschieden. Sie war von ihrem Freund vergewaltigt worden – kaum zu glauben, oder?
»War es der Junge von nebenan?«
Die altmodische Phrase ließ Kenny Taylor so … unschuldig dastehen. Das ärgerte sie, trotzdem nickte sie kaum merklich, und ihr Daumennagel bohrte sich in das nasse Etikett der Wasserflasche.
»Hast du deswegen mit dem Ballett und als Cheerleader aufgehört?«
Genau deswegen. Nicht wegen der Abtreibung. Sondern weil sie es keinen Tag länger in ihrer eigenen Haut aushielt. Weil sie es nicht mehr aushielt, die Cheerleaderin zu sein, die das Bein so hoch in die Luft warf, dass die Basketballspieler ihren Schritt sehen konnten. Weil sie es nicht mehr aushielt, die Tänzerin zu sein, die knappe Kostüme trug und die es darauf anlegte. Weil sie es nicht mehr ertrug, eine Frau zu sein, die einem Mann so komplett ausgeliefert war.
»Ja«, sagte sie, und es ärgerte sie maßlos, dass er auf das alles selbst gekommen war und dass in ihren Augen Tränen brannten. »Deswegen.« Deswegen hatte sie fünf Piercings in den Ohren und eins in der Nase. Und deswegen hatte sie aufgehört zu weinen, sich die Haare abgeschnitten, ein Skateboard geschnappt und versucht, tough zu sein und … weniger weiblich.
Über den Tisch hinweg streckte er eine Hand nach ihr aus und schloss sie um ihre, die die Wasserflasche umklammert hielt. »Dann verstehe ich, warum du gewartet hast.«
Nein, nicht wirklich. Aber er dachte, er würde es verstehen, und das reichte ihr.
»Ich hätte mir nur gewünscht, ich hätte es gewusst«, fügte er hinzu.
»Hätte es dich davon abgehalten?«
»Nein … vielleicht … ja. Was ich meine, ist, es hätte mehr« – er suchte hilflos nach einem Wort, das es seiner Meinung nach traf.
»Mehr was?«, fragte sie. »Bedeutung gehabt? Gewicht? Potenzial, dein Leben zu verändern?«
»Alles davon.«
Sie lächelte bloß. »Für mich hatte es das.«
Er wurde eine Spur blass, blickte auf seinen Teller und schwieg.
Mit anderen Worten, Sex mit ihr war für ihn nichts von alledem.
»Dein Handy summt«, sagte er und wies mit dem Kopf auf einen Haufen Klamotten, die sich von der Tür bis zum Bad verteilten. »Willst du annehmen?«
»Es ist eine SMS.« Sie stieß sich vom Tisch ab, um das Telefon zu holen und die Nachricht von Chessie zu lesen.
Vivi,
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