Guardian Angelinos: Die zweite Chance (German Edition)
es möglich, dass Joshua noch lebte? Sie musste ihm helfen. Fünf qualvolle Herzschläge lang wartete sie, dann kam sie hinter den Regalen hervor und rannte durch den Mittelgang.
Leblose blaue Augen starrten ihr entgegen, sein Gesicht war farblos, und ein Rinnsal tiefroten Bluts sickerte aus einem einzelnen Loch in seiner Schläfe. Die Flasche entglitt ihren Händen, doch sie nahm das Zerbersten des Glases kaum wahr, als sie auf den Toten hinunterstarrte.
Gott, nein. Gott, nein. Nicht schon wieder.
Ungläubig wimmernd sank sie in die Knie und widerstand dem Drang, die Hand auszustrecken und den Mann zu berühren, der noch vor wenigen Minuten mit Freunden gelacht, seiner Frau einen Witz erklärt und einen seltenen, teuren Bordeaux bestellt hatte.
Das konnte nicht wahr sein. Es konnte einfach nicht sein.
Das Blut sammelte sich neben seiner Wange, vermischte sich mit dem Wein. Der Geruch drehte ihr den Magen um, und sie musste würgen, als ihr die Galle hochstieg und ihr die Glasscherben Knie und Handflächen zerschnitten.
Zum zweiten Mal in ihrem Leben hatte sie mitangesehen, wie ein Mensch einem anderen das Leben genommen hatte. Doch dieses Mal war sie dabei gefilmt worden.
2
Mit Laptop und Handy saß Sam auf dem Boden ihres Kleiderschranks und überlegte sich ihren gesamten Fluchtplan und eine Verkleidung, in der sie sich mitten in der Nacht aus ihrer Wohnung schleichen konnte – hoffentlich, ohne dabei geschnappt und getötet zu werden.
Bis jetzt hatte sie aber keine Ahnung, wo sie hinsollte, wenn sie erst mal draußen war. Sie brauchte auf jeden Fall einen Freund. Aber noch dringender brauchte sie jemanden, der für sie herausfand, wie dicht die Polizei Joshua Sterlings Mörder auf den Fersen war. Denn ihr würden sie nichts sagen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Und als sie, versteckt in ihrem Kleiderschrank, die Wohnungstür verbarrikadiert, auf ihrem Computer durch die Nachrichten surfte, sah sie den Namen – und mit einem Mal war die Antwort klar.
Vivi Angelino. Eigentlich stand sie nicht besonders weit oben auf Sams Liste mit Freundinnen – in diesem Fall der Liste früherer Freundinnen, denn in den letzten drei Jahren hatten sie sich kaum gesehen – die ihr aus diesem speziellen Schlamassel helfen konnten. Aber als sie las, dass Vivi den Leitartikel für die Verbrechensermittlung des Boston Bullet verfasst hatte, katapultierte sie das auf Sams Liste ganz nach oben.
Niemand konnte ihr besser helfen als Vivi, die hartnäckige Reporterin mit dem Gespür für gute Storys und einer neugierigen Ader, der die Bedeutung der Worte »kein Kommentar« gänzlich unbekannt waren. Ganz bestimmt wusste sie, was innerhalb des Boston PD vor sich ging, sie wusste, ob Verdächtige festgenommen worden waren oder gegen sie ermittelt wurde, und sie würde verstehen, warum die Polizei der Augenzeugin keinerlei Schutz gewährte.
Sie kannte Sams Vorgeschichte mit der hiesigen Polizei. Sie wusste auch … nein, ihn würden sie da schön raushalten. Der Mann hatte der Freundschaft zwischen Vivi und Sam schon genug geschadet. Der Stich, den Sam allein sein Name schon versetzte, würde sie nicht davon abhalten, sich die nötige Hilfe zu suchen.
Sie klappte ihr Telefon auf und blätterte die letzten Anrufe durch. Jetzt begriff sie, warum Vivi sie, nach Monaten ohne das kleinste Hallo, in der vergangenen Woche zweimal angerufen hatte. Sam hatte nicht vorgehabt, zurückzurufen – sie hatte in dieser letzten Woche eigentlich mit niemandem gesprochen, abgesehen von der Polizei. Aber wenn Vivi über die Tat berichtete, wollte sie wahrscheinlich die Angestellten des Paupiette’s interviewen. Tja, Sam würde Vivi zur Exklusivstory ihres Lebens verhelfen … wenn sie Sam ein bisschen mit Insider-Informationen versorgen konnte.
Sie tippte eine SMS .
Hi. Hab deinen Artikel im Boston Bullet gesehen. Bist du daheim?
Das war unverfänglich genug, für den Fall, dass jemand ihre Anrufe oder SMS -Nachrichten anzapfte.
Sie drückte auf Senden, und ihr Blick blieb an der Überschrift hängen.
Polizei tappt im Sterling-Fall im Dunkeln.
Die Kopfschmerzen, die vor einer Woche im Weinkeller begonnen hatten, hämmerten bei jedem Wort aus Vivis Feder gegen Sams Schläfen.
Kein Durchbruch in dem Fall.
Keine Hinweise auf den Mörder.
Keine Beweise, keine Motive, keine Verdächtigen … keine Zeugen. Polizei vermutet professionellen Killer am Werk.
Zwei Wörter sprangen ihr ins Auge. Keine Zeugen. Das bedeutete, dass die
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