Guardian Angelinos: Die zweite Chance (German Edition)
wenn sie da war. Jetzt musste sie auf der Hut sein.
Bei jeder Abbiegung prüfte sie die Straße hinter ihnen, die Spuren neben ihnen, den Gegenverkehr.
»Niemand folgt uns, glauben Sie mir«, sagte der Fahrer mit einem flüchtigen Lächeln. »Im Ernst. Sie können sich entspannen. Sie sind in Sicherheit.«
Entspannen? Sicherheit? Er hatte ja gar keine Ahnung.
Sie würde sich niemals entspannen oder in Sicherheit wiegen können, solange der Kerl, der Joshua Sterling umgebracht hatte, nicht geschnappt, verurteilt und hinter Gittern war. Und solange sie die einzige lebende Zeugin war, würde sich die halbe Bostoner Polizei einen Dreck darum scheren, ob der Mörder sie zu seinem nächsten Opfer machte. Sie lachten sich schlapp über diese Sache, das wusste sie genau.
Ausgerechnet sie als Zeugin eines Mordes.
Das Taxi polterte über den Bahnübergang und die Bodenwellen der Beacon Street, Seite an Seite mit der wahrscheinlich letzten Straßenbahn der Green Line für diese Nacht. An der Station Tappan hielt diese an und versperrte ihnen die Abbiegemöglichkeit.
Sam beugte sich vor und spähte den Block entlang zu dem Wohnkomplex aus rotem Backstein, den sie einst ihr Zuhause genannt hatte, und eine Welle der Wehmut packte sie. Sie hatte in diesem Gebäude viel Spaß gehabt, in der Werbeagentur gearbeitet, Freundschaften geschlossen – einschließlich Vivis. War auf Vivis Partys gegangen …
Fang nicht damit an, Sam.
Aber war nicht genau das der Grund dafür gewesen, dass sie so lange nicht mehr hier bei ihrer Freundin gewesen war? Und das war falsch gewesen. Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass das, was passiert war – oder nicht passiert war – einen Keil zwischen sie trieb. Und wenn man bedachte, dass sie es zugelassen hatte, war Vivi wirklich ein Engel, ihr um ein Uhr morgens die Tür zu öffnen.
Diese ganze Geschichte war genau das … Geschichte. Frauen sollten niemals eine Freundschaft für einen Mann opfern. Egal, wer er war oder was er getan hatte.
Als sich die Straßenbahn gerade wieder in Bewegung setzte, kam ein Mann um die Ecke gestolpert, winkte hilflos hinter dem Zug her und schwankte dabei so sehr, dass er um ein Haar hingefallen wäre.
»Da ist ja mein nächster Fahrgast«, sagte der Fahrer. »Auch wenn er wahrscheinlich völlig pleite ist.«
Sam lächelte. Es gab doch noch gute Menschen auf der Welt.
»Dann lassen Sie mich einfach hier raus«, sagte sie. »Ich muss gleich ins erste Gebäude da drüben. Dann können Sie ihn aufgabeln.« Sie griff in ihre Tasche, holte ein kleines Lederetui heraus und gab ihm zwei Zwanziger, den doppelten Fahrpreis. »Das müsste auch für ihn reichen.«
»Danke.« Er drehte sich zu ihr um, und an die Stelle des verschlafenen Blicks war nun herzliche Wärme getreten. »Ich hoffe, das Arschloch findet Sie nicht.«
»Ich auch.«
»Hier.« Er gab ihr eine Karte. »Rufen Sie mich an, wenn Sie heute Nacht noch irgendwohin müssen. Ich bleib in der Gegend.«
Sie nahm sie und nickte zum Dank, dann rutschte sie hinüber zur Tür und stieß sie auf. Sie ließ ein Auto vorbeifahren und überquerte dann die Beacon Street, sicher im Schein der Straßenlaternen und in Sichtweite der hellroten Lichter des Star Market.
Der Eingang zu Vivis Wohnung lag keine dreißig Meter vor ihr, doch mit jedem Schritt den Hügel hinauf schien es dunkler zu werden. Sie joggte den Rest des Weges und blickte dabei zu Vivis Eckwohnung im dritten Stock hinauf, konnte aber kein Licht sehen.
Der Mut verließ sie. War Vivi doch nicht aufgeblieben?
Sie zog ihr Handy aus der Tasche und erweckte den Bildschirm zum Leben. Keine neuen Nachrichten.
Sie verlangsamte ihre Schritte und ging im Kopf die Möglichkeiten durch. Vivi war eingeschlafen. Vivi war nicht allein. Oh – an diese Möglichkeit hatte sie gar nicht gedacht.
Die Vorderseite des Gebäudes war immer schlecht beleuchtet, allerdings war Brookline eine so sichere Gegend, dass es bisher gar keine Rolle gespielt hatte. Aber jetzt erschienen ihr die Schatten beunruhigend und bedrohlich, und im abgeschlossenen Eingangsbereich brannte nur ein mickriges Licht. An der Klingelanlage streckte sie die Hand nach V. Angelino in Einheit 414 aus.
Gerade, als ihr Finger das Plastik berührte, legte sich eine Hand auf ihre. Von hinten rammte sie der Körper eines Mannes, und sie schnappte nach Luft, als ihr die Perücke vom Kopf gerissen wurde und ihr starke, große Finger ins Haar fuhren.
»Die Perücke ist Zeitverschwendung, Sam.« Sein
Weitere Kostenlose Bücher