Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre
schneller zu schlagen begann.
Genau in diesem Moment hörten wir einen lang gezogenen, herzzerreißenden Schrei. Natsu stellte ihr Glas zurück und stürzte zum Kinderzimmer. Ich rannte ihr hinterher.
Midori lag aufgedeckt auf dem Rücken, das Kissen auf dem Boden. Sie hatte aufgehört zu schreien und faselte jetzt aufgeregt Dinge in einer unverständlichen Sprache. Dabei zitterte sie. Natsu legte ihr die Hand auf die Stirn und sagte, Mama ist da; doch das Kind hörte nicht auf zu zittern, öffnete auch nicht die Augen und brabbelte weiter.
Bevor mir recht klar wurde, was ich tat, nahm ich Midoris Hand und redete beruhigend auf sie ein.
»Es ist alles in Ordnung, Kleines. Es ist alles in Ordnung.«
Meine Worte wirkten wie ein Zauberspruch. Das Kind blickte uns verwundert an, ohne uns jedoch wirklich zu sehen. Sie zitterte noch einmal kurz und sagte noch ein paar Worte in der geheimnisvollen Sprache, jetzt aber in gänzlich anderem Ton, viel ruhiger. Danach schloss sie die Augen wieder und stieß einen letzten, erleichtert klingenden Seufzer aus. Als sei die böse Energie, die bis vor kurzem in ihr gewütet hatte, durch den Kontakt mit meiner Hand und durch den Klang meiner Stimme von ihr gewichen.
Ich hatte sie sozusagen im Fallen aufgefangen. Ich hatte sie gerettet. Ich war der Fänger im Roggen.
If a body catch a body coming through the rye.
Während ich diesen Vers wie eine magische Formel in Gedanken wiederholte, ging mir auf, was geschehen war. Die Kleine hatte mich offensichtlich mit ihrem Vater verwechselt, und das hatte die Monster vertrieben. Natsu und ich sahen uns an, und ich begriff, dass sie dasselbe dachte. Und noch etwas begriff ich, es kam mir jäh und schmerzhaft zu Bewusstsein: Eine so vollkommene, eine so intensive Intimität hatte ich nur wenige Male in meinem Leben empfunden.
Zur Sicherheit blieben wir noch ein paar Minuten still neben dem Kind sitzen. Es atmete jetzt regelmäßig und schlief mit völlig entspanntem Gesicht.
Natsu rückte das Kissen zurecht und strich die Decke glatt. Wir redeten erst wieder, als wir in der Küche waren.
»In den ersten Tagen habe ich ihr gesagt, der Papa sei auf Dienstreise gegangen. Eine sehr lange Reise ins Ausland, von der ich nicht wüsste, wie lange sie dauern würde. Aber irgendwie hat sie alles rausbekommen. Vielleicht hat sie mich mit jemandem am Telefon reden hören, als ich dachte, sie schläft. Ich weiß es nicht. Jedenfalls guckten wir uns eines Abends einen Film im Fernsehen an, und da war eine Szene, in der die Polizei einen Handtaschenräuber jagt und festnimmt. Als Midori das sah, fragte sie mich, ohne mich anzuschauen, ob sie ihren Papa auch so festgenommen hätten.«
Natsu stockte. Es war offensichtlich, dass sie diese Geschichte ungern erzählte – sich ungern daran erinnerte. Sie schenkte sich noch einmal Rum nach. Dann merkte sie, dass sie mich gar nicht gefragt hatte, ob ich noch welchen wollte. Ich wollte noch welchen, ja, und ich goss ihn mir selber ein.
»Natürlich wollte ich wissen, wie sie denn darauf komme. Ihr Vater sei auf Dienstreise, sagte ich. Midori meinte, das würde sie mir nicht glauben, aber sie hat nie mehr etwas gefragt. Seit diesem Abend hat sie mindestens zwei oder drei Mal in der Woche Albträume. Das Schlimme ist, dass sie dabei fast nie aufwacht. Wenn sie aufwachen würde, könnte ich sie ja beruhigen, mit ihr reden. Aber nein. Sie ist wie gefangen in dieser Welt aus Angst. Und ich komme da nicht rein, kann sie nicht retten.«
Ich fragte sie, ob sie mit der Kleinen schon mal beim Kinderpsychologen gewesen sei. Dumme Frage, dachte ich im nächsten Moment. Natürlich war sie mit ihr beim Kinderpsychologen gewesen.
»Wir gehen einmal pro Woche hin. Nach und nach haben wir es geschafft, dass sie uns ihre Träume erzählt...«
»Träumt sie davon, dass sie auch dich holen kommen?«
Natsu sah mich einen Moment lang verwundert an. Was wusste ich von den Dingen, die einem sechsjährigen Kind durch den Kopf gehen? Dann nickte sie schwach.
»Der Psychologe meint, wir müssten lange an der Sache arbeiten. Er sagt, es sei ein Fehler gewesen, ihr die Wahrheit zu verschweigen, und früher oder später müssten wir ihr erzählen, wo ihr Vater ist. Es sei denn, er würde vorher entlassen. Für den Moment warten wir erst einmal den Ausgang des Berufungsprozesses ab; alles Weitere entscheiden wir danach.«
Als sie den Ausgang des Berufungsprozesses sagte, verspürte ich einen dumpfen Schmerz in der
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