Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre
in einem jener Mehrfamilienhäuser mit Garten, deren Bewohner ich als Kind immer beneidet hatte, weil man dort zum Fußballspielen jederzeit in den Hof hinuntergehen konnte, ohne die Eltern zu fragen.
In den siebziger Jahren hatte Poggiofranco als faschistische Wohngegend gegolten, jedenfalls als eine Gegend, in der sich linke Jugendliche besser nicht blicken ließen. Mir ging durch den Kopf, dass Paolicelli womöglich schon als Kind in diesem Haus gewohnt hatte. Ein störender Gedanke, den ich sofort wieder verdrängte.
Vor dem Aussteigen ließ Natsu sich meine Handynummer geben.
»Ich ruf dich in zehn Minuten an«, sagte sie und stieg aus.
Ich fuhr zwei Straßen weiter und parkte. Dann schaltete ich das Radio aus und genoss schweigend und berauscht die verbotene Vorfreude. Es verging etwas mehr als eine Viertelstunde – während der ich mindestens zehn Mal auf die Uhr sah -, bevor mein Handy klingelte. Sie sagte, wenn ich wolle, könne ich jetzt hoch kommen.
Und ob ich wollte. Ich ließ mein Auto stehen, ging die paar hundert Meter zu Fuß und betrat fünf Minuten später Paolicellis Haus. Natsu erwartete mich bereits auf dem Treppenabsatz. Sie ließ mich eintreten und schloss rasch die Tür.
Die Wohnung hatte den Geruch von Haushalten, in denen Kinder leben. Ich verkehre nicht oft in solchen Wohnungen, aber der Geruch ist unverwechselbar. Eine Mischung aus Puder, Milch, einem Hauch von Obst und anderem. Natsu bat mich in die Küche. Sie war groß und mit Holzmöbeln eingerichtet, die alle von Hand gestrichen waren. Gelb und orange. Sie wirkte warm und fröhlich. Ich sagte ihr, die Möbel gefielen mir sehr gut, und sie meinte, sie habe sie selbst lackiert.
In der Küche war der Kindergeruch schwächer und ging in einen angenehmen Essensgeruch über. Ich weiß noch genau, dass ich dachte, diese Wohnung hat eine gute Ausstrahlung; danach fragte ich mich, wie wohl das Schlafzimmer aussähe und wie es dort röche. Doch ich schämte mich sofort für diesen Gedanken und zwang mich, an etwas anderes zu denken.
Natsu legte eine CD auf. Norah Jones, Feels like home . Leise, um das Kind nicht aufzuwecken.
Sie fragte mich, was ich trinken wolle, und ich meinte, ich hätte gerne etwas Rum getrunken, wenn sie welchen da hatte. Sie holte eine Flasche jamaikanischen Rum aus dem Vorratsschrank und goss ihn in zwei große, dickwandige Gläser.
Wir setzten uns an den Küchentisch, der ebenfalls orange gestrichen war. Beim Sprechen ließ ich die Fingerkuppen über die Tischplatte gleiten. Der Kontakt mit dem leuchtenden Lack, der sich glatt und zugleich rau anfühlte, gefiel mir. Alles in dieser Küche hatte etwas angenehm Handfestes, das sich auch in Farbe und Duft ausdrückte.
»Weißt du eigentlich, dass ich in einem deiner Prozesse war, bevor Fabio dich zu seinem Verteidiger ernannt hat?«
Einen Moment lang war ich grundlos versucht zu leugnen, nein, das wusste ich nicht. Doch dann besann ich mich eines Besseren.
»Ja, ich habe dich gesehen.«
»Ah, dann stimmt es also. Irgendwann hatte ich nämlich den Eindruck, dass sich unsere Blicke kreuzten, aber hinterher war ich mir nicht mehr sicher.«
»Weshalb warst du dort?«
»Fabio hatte mir gesagt, dass er dich zum Verteidiger wollte, und da dachte ich mir, ich gehe mal schauen, ob du wirklich so gut bist, wie behauptet wird.«
»Und woher wusstest du, dass ich an diesem Tag eine Verhandlung hatte?«
»Das wusste ich nicht. Ich ging einfach immer wieder zum Gericht, schaute in die Verhandlungsräume, fragte die Leute, ob jemand Rechtsanwalt Guerrieri gesehen hätte – und das schon seit mehreren Tagen. Einmal bist du genau in dem Moment vorbeigekommen, in dem ich einen Herrn nach dir fragte; ich konnte gerade noch verhindern, dass er dich beim Namen rief. An jenem Morgen bekam ich endlich die Auskunft, du hättest in dem und dem Raum eine Verhandlung und sie würde jeden Moment beginnen. Also bin ich reingegangen und hab den ganzen Prozess mitverfolgt. Und ich kam zu dem Schluss, dass du wirklich so gut bist, wie behauptet wird.«
Ich hatte das Gefühl, meine kindliche Freude nicht vor ihr verbergen zu können, deshalb wechselte ich lieber das Thema.
»Darf ich dich fragen, woher dein neapolitanischer Akzent kommt?«
Bevor sie mir antwortete, öffnete sie das Fenster, trank ihr Glas aus und nahm sich eine Zigarette. Ob es für mich ein Problem sei, wenn sie rauche? Nein, überhaupt nicht. Wahr und zugleich gelogen.
Ihr Vater sei, wie ich mir vorstellen
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