Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre
Magengegend.
»Die Situation ist alles andere als einfach, das kannst du mir glauben.«
Ich nickte zustimmend und musste an die Albträume meiner eigenen Kindheit zurückdenken. An die Nächte, die ich im Schein der Nachttischlampe verbracht hatte, sehnsüchtig darauf wartend, dass die ersten Sonnenstrahlen durch die Ritzen der Rollläden drängen, um endlich einschlafen zu können. An andere Nächte, in denen die Angst so unerträglich war, dass ich auf einem Stuhl vor der Schlafzimmertür meiner Eltern schlief. Ich war damals acht, neun Jahre alt und wusste nur zu gut, dass ich sie nicht darum bitten konnte, in ihr Bett schlüpfen zu dürfen; dafür war ich zu alt. Also stand ich auf, wenn ich aus einem Albtraum erwachte, nahm meine Decke, schleifte einen Stuhl aus dem Wohnzimmer vors Schlafzimmer meiner Eltern, kauerte mich darauf und harrte bis zum Morgengrauen aus; erst dann ging ich in mein Kinderzimmer zurück.
All dies kehrte mir schlagartig ins Gedächtnis zurück, begleitet von derselben Angst, die ich damals empfunden hatte. Und begleitet vom selben schmerzhaften und ohnmächtigen Mitleid – Mitleid mit dem kleinen Jungen von damals und Mitleid mit dem bildhübschen, unglücklichen kleinen Mädchen von heute.
Natsu sagte ich nichts von alledem. Ich glaube, ich hätte es gerne getan, aber ich schaffte es nicht.
Stattdessen erhob ich mich und meinte, es sei spät geworden, ich ginge wohl lieber, zumal der nächste Tag ein Arbeitstag sei.
»Warte einen Moment«, sagte sie und verschwand in der Küche.
Ein paar Sekunden später kam sie wieder zurück und überreichte mir eine CD.
»Das ist die Musik, die wir heute Nacht gehört haben. Nimm sie mit.«
Ich hielt die CD in der Hand, las noch einmal den Titel, schwieg und überlegte mir, was ich sagen könnte. Am Ende sagte ich aber nur gute Nacht, schlüpfte wie ein Dieb zur Tür hinaus und huschte die Treppe des ruhigen Mehrfamilienhauses hinunter. Zehn Minuten später saß ich in meinem Wagen, lauschte der CD und fuhr die kalte, verlassene Straße entlang, die mich nach Hause führte.
In eine Wohnung, die ebenso kalt und verlassen war.
15
T ancredis Anruf erreichte mich, als ich nach einer deprimierenden Akteneinsicht gerade die Geschäftsstelle des Gerichts verließ.
»Hallo, Carmelo.«
»Wo bist du gerade, Guerrieri?«
»In Tahiti, im Urlaub. Hatte ich dir das nicht gesagt?«
»Pass auf. Sonst stirbt bei deinen Witzen noch jemand vor Lachen.«
Er meinte, wir müssten uns sehen. Dem Ton nach ging es um Dinge, die er nicht am Telefon besprechen konnte, also stellte ich keine Fragen. Er schlug eine Bar in der Nähe des Gerichts vor, und zwanzig Minuten später saßen wir bereits vor zwei der schlechtesten Cappuccinos Apuliens.
»Hast du die Passagierliste?«
Tancredi nickte. Dann sah er sich um, als wolle er überprüfen, ob wir beobachtet wurden. Wir konnten gar nicht beobachtet werden, denn die Bar war leer, abgesehen von der dicken Signora hinter dem Tresen, die unsere exquisiten Heißgetränke verbrochen hatte.
»Unter den Passagieren, die aus Montenegro eingereist sind, befindet sich ein Herr, der in gewissen Kreisen ziemlich bekannt ist.«
»Nämlich?«
»Romanazzi, Luca, Jahrgang 1968. Gebürtig aus Bari, aber ansässig in Rom. Zweimal wegen Drogenhandels und Zugehörigkeit zu einer kriminellen Bande, sprich Mafia, festgenommen und angeklagt, beide Male freigesprochen. Bürgerliche Familie, Vater Gemeindeangestellter, Mutter Kindergärtnerin. Geschwister unauffällig. Ganz normale Leute. Er ist das klassische schwarze Schaf. Wir sind uns sicher, dass er an mehreren Überfällen auf Geldtransporter beteiligt war – das sagen gleich mehrere Informanten – und dass er in illegale Geschäfte mit Albanien verstrickt ist. Drogen und Luxusfahrzeuge. Aber wir haben nichts Konkretes gegen ihn in der Hand. Er macht seine Sache gut, der Hurensohn.«
»Genau der Typ also, der einen Drogenschmuggel nach dieser Methode organisiert haben könnte.«
»Ja, richtig, könnte . Er könnte auch ein Komplize deines Mandanten sein – nur um alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Auch das wäre eine plausible Hypothese.«
»Ich muss ihn Paolicelli zeigen.«
»Tja.«
»Das heißt, ich brauche ein Foto, Carmelo.«
Er sagte nichts, blickte sich erneut um, indem er nur die Augen bewegte, und am Ende zog er einen gelben Umschlag aus der Jackeninnentasche und reichte ihn mir.
»Ich wäre dir dankbar, wenn diese Übergabe unter uns bleiben könnte,
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