Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre
überkam, mich auf der Schwelle zwischen Traum und Wirklichkeit zu befinden.
Hatten sich die Ereignisse der letzten vier Monate wirklich zugetragen? Stimmte es, dass Natsu und ich bei mir zu Hause zweimal miteinander geschlafen hatten? War ich wirklich mit ihr und der kleinen Midori im Park spazieren gegangen und hatte mir ein paar Minuten lang widerrechtlich die Rolle des Vaters angeeignet, oder hatte ich mir das bloß vorgestellt? Und mehr noch: War der Angeklagte Fabio Paolicelli tatsächlich jener Fabio Raybàn, der mich meine gesamte Jugend hindurch verfolgt hatte? Und bedeutete es mir wirklich noch etwas, die Wahrheit über Vorkommnisse herauszufinden, die so weit zurücklagen, vorausgesetzt, es hatte eine solche Wahrheit je gegeben? Woher wissen wir überhaupt, ob ein Bild, das wir im Kopf tragen, auf Wahrnehmung oder auf Einbildung zurückgeht? Gibt es wirklich etwas, was bestimmte Träume von bestimmten Erinnerungen unterscheidet?
Es dauerte ein paar Sekunden. Als die Richter im Beratungszimmer verschwanden, kehrten meine Gedanken zur Normalität zurück.
Was auch immer dieses Wort bedeuten mag.
47
A n diesem Tag gab es mehrere Prozesse mit Inhaftierten, in verschiedenen Sälen, und nur wenig Wachpersonal. Der Chef des Wachtrupps hatte den Richter gebeten, Paolicelli in den Haftraum im Kellergeschoss zurückbringen zu dürfen, um seine Leute in anderen Gerichtssälen einsetzen zu können. Sobald sich die Richter auf das Urteil geeinigt hatten, würde der Protokollführer die Vollzugsbeamten benachrichtigen und Paolicelli würde zur Urteilsverkündung wieder nach oben gebracht werden.
Im Saal blieben niemand außer Natsu und mir zurück. Wir setzten uns in die Bank des Anklägers.
»Wie geht es der Kleinen?«
Sie zuckte mit den Schultern, die Lippen zu einem gezwungenen Lächeln verzogen.
»Gut. Ziemlich gut. Heute Nacht hatte sie wieder Albträume, aber es hat nicht lange gedauert. In letzter Zeit sind die Anfälle kürzer geworden und lange nicht mehr so heftig.«
Wir sahen uns ein paar Sekunden an und dann streichelte sie meine Hand. Länger, als die Vorsicht es geraten hätte.
»Bravo. Dein Plädoyer war nicht einfach, aber ich hab alles verstanden. Du warst sehr gut.« Sie zögerte einen Moment. »Ich hatte nicht erwartet, dass du dich so in die Sache hineinknien würdest.«
Jetzt war ich es, der gezwungen lächelte.
»Was meinst du, was passiert als Nächstes?«
»Ich kann keine Vorhersage machen. Unmöglich. Theoretisch kann alles passieren.«
Sie nickte. Eine andere Antwort hatte sie wahrscheinlich gar nicht erwartet.
»Können wir draußen etwas trinken gehen?«
»Klar. Es dauert bestimmt eine ganze Weile, bis die Richter mit dem Urteil erscheinen.«
Sollten sie sofort wieder erscheinen, wäre das kein gutes Zeichen, wollte ich noch hinzufügen. Das würde nämlich bedeuten, dass sie mein Plädoyer erst gar nicht berücksichtigten, sondern das Urteil aus erster Instanz direkt bestätigten. Doch an diesem Punkt war es überflüssig, das zu erwähnen, und so verkniff ich es mir.
Wir verließen das Gericht, gingen einen Kaffee trinken, machten einen Spaziergang. Dann kehrten wir zurück. Wir sagten kaum etwas. Das Nötigste, um uns nicht in unserem Schweigen zu verlieren. Ich weiß nicht, was sie empfand. Sie sagte es mir nicht, und meine Intuition reichte nicht aus, um es zu erraten. Vielleicht wollte ich das auch gar nicht. Ich verspürte eine zärtliche Wehmut, die auch etwas von Resignation hatte. Eine Art fernes Rauschen.
Um fünf Uhr leerte sich das Gebäude. Geräusche von Türen, die geschlossen wurden, Stimmen, eilende Schritte.
Und dann diese seltsame, unverwechselbare Stille verlassener Büroräume.
Es war kurz vor sechs, als wir die Wachbeamten mit Paolicelli wiederkehren sahen. Sie gingen ganz nah an uns vorbei. Er sah mich an, suchte nach einer Botschaft in meinen Augen. Und fand keine. Ich war in meinem gesamten Berufsleben wenige Male so unsicher gewesen, was den Ausgang eines Prozesses betraf.
Ich ging an meinen Platz zurück, während die Wachbeamten Paolicelli in den Käfig brachten, der stellvertretende Generalstaatsanwalt den Saal betrat und Natsu sich im nunmehr verlassenen Zuschauerraum niederließ.
Dann kamen die Richter aus dem Beratungszimmer, ohne dass auch nur die Glocke geläutet worden wäre.
Mirenghi verlas rasch das Urteil. Noch bevor ich mir die Robe auf der Schulter zurechtrücken konnte. Er verlas es mit äußerst angespanntem Gesicht, und
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