Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
einigen Jahren erzählt hatte, dass die lebhafteste und bestbesuchte New Yorker Gegend für Schwule der Stadtteil Chelsea war. Also, sagte ich mir im Geiste, war auch der dezidiert amerikanisch klingende Name des Lokals, in dem ich gelandet war, kein Zufall, und er war nicht (oder nicht nur) aus Leidenschaft für Leonard Cohen gewählt worden.
An einem Tisch saßen zwei Mädchen, die sich an der Hand hielten, sich intensiv unterhielten und von Zeit zu Zeit küssten. Sie erinnerten mich an die beiden Giovannas, Freundinnen von Margherita, die erfahrene Kampfsportlerinnen und Fallschirmspringerinnen waren. Einen Moment lang fragte ich mich sogar, ob sie es nicht sogar waren, doch dann überlegte ich, dass die beiden Giovannas wohl kaum die einzigen Lesbierinnen der Stadt waren.
Die anderen Tische waren vorwiegend, beinahe ausschließlich von Männern besetzt.
Auf einmal hatte ich das Gefühl, in eine berühmte Szene des Films Police Academy katapultiert worden zu sein. Dort landen die beiden bescheuerten Rekruten in einem Sado-Maso-Lokal für Schwule, wo sie mit muskulösen Schnurrbartträgern mit Nazi-Mützen und Lederanzügen Schieber tanzen. Ich fragte mich, mit wie vielen von ihnen ich fertigwerden würde, bevor sie die Oberhand gewannen und sich auf mich stürzten.
Na gut, ich übertreibe mal wieder. In Wirklichkeit war alles ganz normal, die Musik war nicht von den Village People (während ich meinen Überlegungen nachhing, ertönte im Hintergrund ganz harmlos Dance me to the end of love ), und niemand war auch nur annähernd sadomaso-mäßig angezogen.
Trotzdem konnte man meine Anwesenheit dort ohne Weiteres missverstehen. Ich stellte mir vor, was wäre, wenn ich einem Bekannten begegnete – womöglich einem Kollegen oder einem Richter – und wie ich versuchen würde zu erklären, dass ich dort nur gelandet war, weil ich gern lange nächtliche Spaziergänge in den heruntergekommenen Gegenden der Stadt unternahm.
Ich versuchte mich zu erinnern, welche schwulen Anwälte oder Richter ich kannte. Mir fielen fünf ein, und ich stellte erleichtert fest, dass keiner von ihnen anwesend war.
Gleich nach dieser idiotischen Überlegung sagte ich mir, dass ich wohl nicht ganz bei Trost war. Obwohl die Situation ein wenig, nun ja, ungewöhnlich war, war es auch nicht normal, dass ich mich angstvoll und verstohlen umsah, so als stünde auf dem Neonschild »Club der schwulen Juristen« oder etwas in der Art.
Während ich noch über eine Strategie nachdachte, wie ich das Lokal – und möglichst auch meine kindischen Überlegungen – unauffällig wieder hinter mir lassen konnte, vernahm ich eine Stimme, die sich über die von Leonard Cohen legte und ein für alle Mal verhinderte, dass mein Aufenthalt im Chelsea Hotel n. 2 unbemerkt blieb.
»Herr Guerrieri!«
Ich drehte mich nach rechts, während ich rot anlief und mich fragte, wie ich der Besitzerin dieser Stimme, wer auch immer sie sein mochte, meine Anwesenheit erklären sollte.
Nadia. Nadia, an den Nachnamen konnte ich mich nicht erinnern.
Vor vier, fünf Jahren war sie meine Mandantin gewesen.
Ein Ex-Fotomodell, Ex-Pornodarstellerin, Ex-Edelhostess, die verhaftet worden war, weil sie einen Ring von sehr schönen, sehr teuren Hostessen aufgebaut und organisiert hatte. Es war mir gelungen, wider Erwarten einen Freispruch zu erzielen, mit Hilfe von etwas, was Nicht-Fachleute als Haarspalterei bezeichnen würden. In Wirklichkeit hatte ich einen Formfehler in den Abhörprotokollen gefunden, so dass die Anklage wie ein Cracker zerbröselt war.
Ich erinnere mich noch genau an Nadia am Tag des Prozesses. Sie trug einen anthrazitfarbenen Hosenanzug und eine weiße Bluse, war dezent geschminkt und sah in keinster Weise wie eine Prostituierte aus. Tatsächlich hatte ich bei jedem einzelnen unserer Termine festgestellt, dass sie überhaupt nicht so aussah, wie es die Klischees ihres Berufs verlangten. Weder im Gefängnis noch in meiner Kanzlei noch im Gerichtssaal.
An jenem Abend trug sie verwaschene Jeans und ein enges, weißes T-Shirt. Sie sah zugleich – ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll – jünger und älter aus und war trotz ihrer lässigen Kleidung elegant wie immer. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich damals eigentlich bemerkt hatte, wie schön sie war.
»Ciao … ich meine, guten Abend. Ich habe aus Versehen du gesagt … ich meine, vor Überraschung.«
»Ich bin auch überrascht, dich hier zu sehen. Willkommen in meinem Lokal.«
»In Ihrem
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