Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
daran, dass in einer halben Stunde der Assessor des Baureferats einer Provinzgemeinde vorbeikommen würde, dem eine Klage wegen Amtsmissbrauchs und illegaler Baugenehmigungen ins Haus stand. Soviel ich wusste, war dieser Referent ein anständiger Kerl, aber in einigen Gemeinden wurde Politik ausschließlich mit Hilfe von anonymen Anzeigen und gerichtlichen Klagen betrieben.
Ich ließ eine halbe Stunde verstreichen, in der ich die Akte durchblätterte, ohne sie wirklich zu lesen. Ich spürte vor allem ihre Gegenwart. Diese Kopien strahlten eine schreckliche Unruhe aus. Ich dachte an die Eltern des Mädchens und wie ich selbst etwas so Furchtbares wie das Verschwinden einer Tochter erlebt hätte. Ich versuchte es mir vorzustellen, aber es gelang mir nicht. Meine Vorstellungskraft weigerte sich, etwas so Ungeheuerliches in eine präzise Darstellung umzusetzen. Ich konnte mir nur ansatzweise die Art und das Ausmaß dieses Grauens ausmalen.
Wie konnte ein normales Mädchen mit einem normalen Leben und einer normalen Familie von einem Moment auf den anderen verschwinden, ohne Vorwarnung, ohne Ankündigung und ohne Spuren zu hinterlassen?
War es möglich, dass sie untergetaucht war und so herzlos war, ihre Familie in solcher Angst und Verzweiflung zurückzulassen? Das war meiner Meinung nach undenkbar.
Wenn sie jedoch nicht untergetaucht war, dann gab es zwei Möglichkeiten. Entweder sie war entführt worden – aber warum? – oder jemand hatte sie umgebracht, absichtlich oder versehentlich, und hatte dann die Leiche verschwinden lassen.
So viel geniale Intuition, dachte ich. Ferraro und mein Kollege Fornelli hatten gut daran getan, sich an den neuen Auguste Dupin zu wenden.
Die wesentliche Frage jedoch war eine ganz andere: Was konnte ich in dieser Sache tun? Selbst wenn ich bei der Durchsicht der Akten eine Lücke in den Ermittlungen feststellte, was wäre dann der nächste Schritt? Trotz allem, was ich mit Fornelli besprochen hatte, dachte ich nicht daran, einen Privatdetektiv zu engagieren. Zweifellos gab es sehr gute Vertreter dieses Berufsstands, doch ich hatte bisher nicht das Vergnügen gehabt, ihnen zu begegnen. Meine einzigen beiden Erfahrungen mit Detekteien waren ein Desaster gewesen, und ich hatte mir geschworen, diese Erfahrung nicht zu wiederholen.
Die Idee, selbst zu ermitteln, war hingegen vollkommen absurd, obwohl ich zugeben musste, dass ich sie auf gefährliche Weise verlockend fand.
Für den Fall, dass ich einen Ansatzpunkt fand, gab es nur eine Möglichkeit: zum Staatsanwalt gehen und ihm – mit sehr viel Fingerspitzengefühl, denn diese Leute sind sehr empfindlich – noch eine Untersuchung empfehlen, bevor er den Fall endgültig schloss.
Der Assessor kam und holte mich zum Glück aus diesen Überlegungen heraus, indem er verlangte, mich ihm und seinen Problemen mit der Justiz zu widmen.
Er machte einen sehr erregten Eindruck. Er war eigentlich ein Studienrat, der zum ersten Mal ein öffentliches Amt innehatte und zum ersten Mal von der Justiz belangt wurde. Er war daran nicht gewöhnt und befürchtete, jeden Moment verhaftet zu werden.
Ich ließ mir in groben Zügen schildern, worum es ging, warf einen Blick auf die gerichtliche Ladung zum Verfahren und auf ein weiteres Dokument, das er mitgebracht hatte, und sagte ihm abschließend, dass er sich beruhigen könne, da offensichtlich nichts wirklich Ernstes gegen ihn vorlag.
Er wirkte nicht ganz überzeugt, aber immerhin erleichtert. Er dankte mir, und wir trennten uns mit dem Plan, dass ich zum Staatsanwalt gehen würde, um ihm mitzuteilen, dass mein Mandant ohne Weiteres bereit war, auszusagen und seine Position zu klären.
Einer nach dem anderen kamen meine Mitarbeiter – ich hasse diesen Ausdruck –, um sich von mir zu verabschieden. Dieses Zeremoniell gab mir jedes Mal das Gefühl, alt und verkalkt zu sein.
Als ich schließlich allein war, rief ich den japanischen Imbiss an, der vor Kurzem in der Nähe der Kanzlei aufgemacht hatte, und bestellte Unmengen von Sushi, Sushimi, Temaki, Uramaki und Sojasprossensalat. Als die Dame am Telefon fragte, ob ich auch Getränke wollte, nahm ich noch eine Flasche eisgekühlten Weißwein.
»Und Stäbchen und Becher für zwei Personen, natürlich«, sagte die Dame.
»Natürlich, für zwei«, sagte ich.
8
E ine Dreiviertelstunde später befreite ich meinen Schreibtisch von einem chaotischen Durcheinander aus Schälchen, Fläschchen, Stäbchen, Tüten und Servietten. Als ich damit fertig war,
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