Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
Lokal? Diese Kneipe gehört Ihnen?«
»Das Du war schon in Ordnung.«
»Ach so, ja, für mich ist es auch in Ordnung.«
»Was hat dich hierher verschlagen?«
Sie sagte es lächelnd und, wie mir schien, mit einer Spur belustigter Bosheit. Die tatsächliche Frage, die mitschwang, wenn auch nicht allzu deutlich, war: Bist du also schwul? Jetzt ist mir klar, warum du dich damals, als ich deine Mandantin war, so korrekt verhalten und die Situation nicht ausgenutzt hast.
NEIN . Ich. Bin. Nicht. Schwul. Ich bin zufällig hierhergekommen, weil ich abends gern in den abgelegenen Teilen der Stadt spazieren gehe, weil ich gern dort spazieren gehe, wo keine Leute sind, nein, ich bin nicht hergekommen, um jemanden aufzureißen, ja, ja, ich kann mir vorstellen, dass das nicht sehr glaubwürdig klingt, aber ich schwöre dir, ich habe nur einen Spaziergang ins Blaue gemacht, habe ein Licht in der Dunkelheit gesehen und bin hineingegangen, aber ich hatte KEINE Ahnung, dass das eine Schwulenkneipe ist … ich meine, was für ein Lokal das hier ist, nicht, dass ich Vorurteile hätte, glaube mir, ich bin ein Linker, ich bin vollkommen offen und habe jede Menge schwuler Freunde.
Okay, nicht jede Menge, aber schon ein paar. Wie auch immer, was ich sagen wollte, ist: Ich. Bin. Nicht. Schwul.
Doch ich sagte das alles nicht. Ich zuckte nur die Schultern und setzte eine Miene auf, die meiner Meinung nach alles Mögliche bedeuten konnte. Das passte am besten zu der Situation.
»Na ja, ich war gerade spazieren, sah das Schild und wurde neugierig. Also bin ich hereingekommen, und ich muss sagen, es ist sehr hübsch hier.«
Sie lächelte.
»Aber bist du schwul? Ich hatte damals, als ich deine Mandantin war, nicht gerade diesen Eindruck.«
Ich war froh, dass sie mir die Frage stellte. Das machte alles einfacher. Ich sagte, nein, ich sei nicht schwul, und erzählte ihr von meinen nächtlichen Spaziergängen. Sie fand das ganz normal, und ich liebte sie dafür. Dann bot sie mir ein Gläschen köstlichen Rum an, dessen Name ich noch nie vorher gehört hatte. Dann noch eines, und als ich auf die Uhr sah, merkte ich, dass es schon sehr spät war, und stand auf. Ich musste ihr versprechen, dass ich bald wiederkommen würde, auch wenn ich nicht schwul war. Es gebe auch heterosexuelle Gäste – wenige, zugegebenermaßen –, man habe seine Ruhe, esse gut, oft gebe es Live-Musik, und vor allem würde ich ihr eine Freude machen, wenn ich wiederkäme. Das sagte sie, während sie mir in die Augen sah, mit einer Natürlichkeit, die mir sehr gut gefiel. Und ich versprach es ihr, sicher, dass ich dieses Versprechen halten würde.
Seit jenem Abend ging ich regelmäßig ins Chelsea Hotel . Ich genoss es, allein dort sitzen zu können, ohne mich allein zu fühlen. Ich fühlte mich dort einfach wohl, ich verspürte ein Gefühl fröhlicher, ein wenig kühner Vertrautheit, das mich an etwas erinnerte, von dem ich nicht genau wusste, was es war.
Bei einem meiner ersten Besuche kam, während ich allein an meinem Tisch saß und auf das Essen wartete, ein junger Typ an meinen Tisch und fragte, ob er sich setzen dürfe.
Nimm dich zusammen, sagte ich mir, während ich ihm mit der Hand bedeutete, dass er sich gern setzen könne. Er gab mir die Hand – ein herzhafter, männlicher Händedruck – und stellte sich als Oliviero vor. Nach ein paar höflichen Floskeln sah mir Oliviero durchdringend in die Augen und sagte, er bevorzuge reifere Männer. Ich knirschte mit den Zähnen und suchte nach einer freundlichen Art, ihm zu erklären, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen, als Nadia mit meiner Bestellung auftauchte.
»Guido ist nicht schwul, Oliviero.«
Er sah sie an, von unten nach oben. Dann musterte er mich und wirkte enttäuscht.
»Schade. Aber man weiß ja nie. Ich hatte einmal einen Freund – der war bestimmt älter als du –, der erst mit vierundvierzig gemerkt hat, dass er schwul war. Wie alt bist du?«
»Fünfundvierzig«, sagte ich mit deutlicher Betonung. Und fügte hinzu, dass ich keine großen Änderungen in Bezug auf meine sexuellen Vorlieben erwartete. Trotzdem könne Oliviero gern noch ein Glas mit mir trinken.
Oliviero trank keinen Alkohol, entfernte sich kurz darauf etwas verdattert, und das war das einzige Mal, dass mich ein Mann im Chelsea anmachte.
Ich fuhr meist mit dem Fahrrad hin, hörte Musik und entdeckte mitunter Stücke, die ich noch nie gehört hatte, aß, unterhielt mich mit Nadia, trank hervorragende
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