Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
Manchmal, wenn die Traurigkeit zunahm und gefährlich nah an Selbstmitleid grenzte, sagte ich mir, dass ich keinen Grund zur Klage hatte. Ich hatte meine Arbeit, meinen Sport, ein paar Reisen, die ich allein machte, ein paar seltene Abende mit höflichen, netten Bekannten. Und dann natürlich meine Bücher. Etwas fehlte, das war klar. Aber ich war schon als kleiner Junge immer sehr einsichtig gewesen, wenn man mir sagte, dass ich doch mal an die verhungernden Kinder in Afrika denken sollte.
Vor ein paar Wochen hatte ich die Kanzlei gegen zehn Uhr abends verlassen, nach einem vollkommen verregneten Tag. Ich hatte in einem exotischen Imbissladen, der abends lange auf hatte, einen Joghurt mit grünem Tee gekauft und ihn auf dem Weg Richtung Norden verspeist.
Ich liebe es, unterwegs zu essen. Unter den richtigen Umständen – wie auf diesen nächtlichen Spaziergängen – löst das bei mir Erinnerungen an meine Jugendzeit aus. Klare, intakte Erinnerungen ohne melancholischen Beigeschmack. Manchmal verschafft es mir sogar eine Art Euphorie, als entstünde ein Kurzschluss innerhalb der Zeit, der mich wieder zu dem werden lässt, der ich einst war und der noch eine Menge von ersten Malen vor sich hat. Was zwar eine Illusion ist, aber trotzdem nicht schlecht.
Ich lief an der endlosen Einfriedung des Hafens entlang, durch die Via Vittorio Veneto mit ihrer Fahrradspur. Nach dem vielen Regen war die Stadt wie mit einem schwarzen, glänzenden Lack überzogen. Es gab keine Radfahrer, keine Fußgänger, keine Autos. Es war ein Szenario wie bei Blade Runner , und dieses Gefühl verstärkte sich noch, als ich zu den einsamen, öden Straßen kam, die zwischen dem Messegelände der Fiera del Levante, einem riesigen, seit Jahrzehnten verlassenen Industriegelände, und dem früheren Schlachthof lagen, der heute die Nationalbibliothek beherbergt und dessen Innenhöfe aussehen wie von De Chirico gemalt. Es gibt dort keine Bars, Restaurants oder Geschäfte. Nur Büros, leere Lagerhallen, Autowerkstätten, stillgelegte Schlote, Höfe von Fabriken, die vor Jahrzehnten aufgegeben wurden und mit Gestrüpp überwuchert sind, und streunende Hunde, Eulen und wilde Stadtfüchse, die sich nicht einfangen lassen.
Die Unruhe, die von diesen Orten ausgeht, hat eine merkwürdig wohltuende Wirkung auf mich. Als würde sie mich von meiner eigenen Unruhe erlösen, die sie in ihren düsteren Strom aufnimmt, als würde mich die diffuse Angst vor einer äußerlichen Gefahr von der schlimmeren oder zumindest weniger begreifbaren Angst vor einer inneren Gefahr befreien. Nach diesen Spaziergängen in einsamen und unheimlichen Gegenden schlafe ich wie ein Kleinkind, und normalerweise wache ich am nächsten Morgen auch gut gelaunt auf.
Ich war gerade mitten im Niemandsland an der Grenze zwischen dem Libertà- und dem San-Girolamo-Viertel, als ich in einer Nebenstraße, mitten in der nassen, schäbigen Dunkelheit, eine blau-rosa Leuchtschrift entdeckte, die wie eine Neonreklame aus den Fünfzigerjahren aussah.
Es war eine Kneipe, und sie sah aus, als hätte man sie von einem zeitlich und räumlich weit entfernten Ort genommen und hierhergeschleudert, zwischen die Lagerhallen, die Werkstätten und die Dunkelheit.
Der Name auf dem Schild war Chelsea Hotel n. 2 , genau wie der Titel eines meiner Lieblingssongs, und aus dem Inneren drang schwaches, grünliches Licht, was daran lag, dass die Milchglasscheiben aus dickem, grünem Glas waren.
Ich ging hinein und sah mich um. Es roch gut: nach Essen, Sauberkeit und Gewürzen. Derselbe Geruch, den warme, trockene und gemütliche Wohnungen manchmal haben.
Das Lokal war mit modernen amerikanischen Antiquitäten ausgestattet, die zum Neonlicht des Schilds passten und scheinbar zufällig im Raum verteilt waren. In Wirklichkeit, dachte ich, als ich mich genauer umsah, war hier gar nichts zufällig. Dies war das Werk von jemandem, der genau wusste, was er tat. Die Wände waren mit Filmplakaten bedeckt. Einige der älteren sahen aus wie Originale und wirkten wertvoll.
Die Lautstärke der Musik war akzeptabel – ich mag es nicht, wenn die Musik voll aufgedreht ist, außer bei besonderen Anlässen – und es waren eine Menge Leute da, trotz der vorgerückten Stunde. Irgendetwas lag in der Luft, was ich erst dann erkannte, als ich mich an die Bar setzte, auf einen hohen Hocker aus Holz und Leder.
Das Chelsea Hotel n.2 war eine Schwulenkneipe. In diesem Moment der Offenbarung erinnerte ich mich daran, wie man mir vor
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