Gullivers Reisen
uns diese Zänkereien eben so unbegründet, wie bei jenem Volke finden.
Was die Militärangelegenheiten von Brobdingnag betrifft, so besteht die königliche Armee aus 176,000 Mann Infanterie und 32,000 Mann Kavallerie, wenn nämlich ein Heer den Namen einer Armee verdient, welches aus Geschäftsleuten verschiedener Städte und aus den Bauern des Landes zusammengesetzt, und von den höhern Ständen ohne Sold oder Belohnung befehligt wird. Die Truppen sind zwar gut exercirt und stehen unter guter Disciplin, allein darin sah ich kein großes Verdienst. Dies ist nämlich eine ganz natürliche Folge, da jeder Pächter von seinem Gutsherrn, und jeder Bürger von den angesehensten Leuten seiner Stadt befehligt wird, die nach Art der Republik Venedig durch geheime Abstimmung gewählt werden.
Ich habe die Miliz von Lorbrulgrud zum Exerciren häufig ausrücken sehen, und diese Waffenübungen wurden auf einem großen Felde bei der Stadt, von zwanzig Quadratmeilen Umfang, gehalten. Die Miliz betrug nicht mehr als 25,000 Mann Infanterie und 6,000 Mann Kavallerie. Es war mir aber unmöglich ihre Zahl nach dem Boden, den sie einnahm, zu bestimmen. Ein Reiter auf einem großen Pferde mochte ungefähr neunzig Fuß hoch seyn. Ich habe gesehen, wie diese ganze Masse Kavallerie auf Commando ihre Säbel zog und in der Luft emporschwang. Die Einbildungskraft kann nichts so Großartiges, Ueberraschendes und Erstaunendes ersinnen. Es schien als ob zehntausend Blitze auf einmal von jedem Theile des Himmels herabführen.
Ich wurde neugierig, weßhalb dieser Fürst, dessen Gebiet von jedem andern abgeschlossen ist, eine Armee halte, und sein Volk an militärische Disciplin gewöhne; bald aber erfuhr ich den Grund sowohl durch Gespräch, wie durch Lesen der Geschichtschreiber von Brobdingnag. Viele Menschenalter hindurch litt das Volk an derselben Krankheit, der das Menschengeschlecht überall unterworfen ist; der Adel strebte oft nach Gewalt, das Volk nach Freiheit, der König nach unumschränkter Regierung. Alle diese Umstände, welche freilich durch die Gesetze des Königreichs glücklicherweise gemildert wurden, bewirkten mitunter, daß eine der drei Parteien das Recht verletzte, und daß Bürgerkriege entstanden. Der letzte derselben ward von dem Großvater des regierenden Königs glücklicherweise durch einen allgemeinen Vergleich beendet, und die Miliz, welche damals durch Uebereinstimmung Aller errichtet ward, ist seitdem im strengsten Dienste fortwährend erhalten worden.
Achtes Kapitel.
Der König und die Königin reisen an die Gränzen. Der Verfasser begleitet sie; ein genauer Bericht von der Weise, wie er das Land verläßt. Er kehrt nach England zurück.
Ich hegte stets die feste Ueberzeugung, daß ich dereinst meine Freiheit wieder erlangen würde, ob es mir gleich unmöglich war, die Mittel zu vermuthen, oder einen Plan der gelingen könnte, zu dem Zwecke zu entwerfen. Das Schiff, worin ich anlangte, war das erste, welches an die Küste verschlagen wurde, und der König hatte strengen Befehl gegeben, ein zweites, welches wieder anlangen möchte, an's Ufer zu bringen und mit aller Mannschaft in Körben nach Lorbrulgrud zu transportiren. Er wünschte sehr, mir ein Weib meiner Größe ertheilen zu können, damit ich die Race fortpflanzte; wie ich glaube, wäre ich jedoch lieber gestorben, als daß ich schmählicherweise eine Nachkommenschaft hinterlassen hätte, die man wie zahme Kanarienvögel in Kästchen würde verwahrt und mit der Zeit als Merkwürdigkeiten an Personen von Stande verkauft haben. Ich ward allerdings sehr gütig behandelt; ich war der Günstling eines großen Herrscherpaares und das Entzücken eines ganzen Hofes, allein ich stand mit allen Personen auf einem Fuße, welcher der Würde des Menschengeschlechtes nicht geziemte. Auch konnte ich nie meine theure Familie in England vergessen. Und dann wünschte ich auch unter Leuten zu leben, mit denen ich als mit Meinesgleichen umgehen, und in den Straßen und Feldern ohne Furcht, wie ein Frosch oder junger Hund zertreten zu werden, umherspazieren konnte. Meine Befreiung kam jedoch schneller, als ich erwartete, und in sehr ungewöhnlicher Weise. Die ganze Geschichte mit allen Einzelnheiten will ich hier getreulich berichten.
Ich befand mich jetzt zwei Jahre in Brobdingnag, und im Anfang des dritten begleitete ich mit Glumdalclitch den König und die Königin auf einer Reise nach der Südküste des Königreichs. Wie gewöhnlich wurde ich in meiner
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