Gurkensaat
die Kinder es verlassen haben.«
Nachtigalls Augen wanderten unruhig über die Szenerie. »Sieht nicht so aus, als hätten die beiden sich gut verstanden.«
»Wieso? Hat das jemand behauptet?«, blaffte der Hausherr.
»Nein. Aber ich hatte mir etwas mehr Nähe zwischen den beiden vorgestellt«, versuchte der Hauptkommissar eine Erklärung. »Ich selbst habe nur ein Kind, mir fehlt also Erfahrung auf dem Gebiet.«
Olaf Gieselke sah Nachtigall zornig an. »Die beiden konnten sich nicht ausstehen. Das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Es war nicht so, dass einer der beiden darüber unglücklich war. Vier Jahre Altersunterschied sind eine Menge. Für Annabelle war es eine Welt.«
»Sie hatten keine gemeinsamen Interessen?«
»Schlimmer. Annabelle ging der Kleine gewaltig auf die Nerven. Sie konnte nichts mit ihm anfangen. Ehrlich gesagt, war sie wohl von der Idee, ihre Ferien hier zu verbringen, nicht begeistert.«
»Nein? Ich dachte, ein paar Tage bei den Großeltern wären nicht schlecht. Auch wenn man den kleinen Bruder dafür in Kauf nehmen musste. Keine Verpflichtungen, Oma und Opa, die einen verwöhnen – so unerträglich klingt das für mich nicht«, stellte Skorubski fest.
»Annabelle fühlte sich abgeschoben. Und so ganz unrecht hatte sie damit ja auch nicht.«
»Abgeschoben? Ich dachte, es sollte eine letzte gemeinsame Zeit für die Geschwister sein, vor der Reise nach Quebec.«
»Sollte es vielleicht. Aber mein feiner Herr Sohn war nicht etwa hier, um die Gesellschaft seiner Kinder noch einmal zu genießen. Nein, er ist bei seinem Flittchen gewesen, die ganze Zeit über. Und auch die beiden anderen wollten nur ein paar Tage Ruhe haben. Zum Packen, zum Organisieren, zum Kuscheln! Wussten Sie eigentlich, dass Nele von diesem Mühlberg schwanger ist?« Zufrieden registrierte er die Überraschung auf den Gesichtern der beiden Ermittler.
»Also doch!«, kommentierte Skorubski trocken.
»Oh ja. Wenige Monate nach dem Umzug nach Quebec hätte der kleine Maurice ein Geschwisterchen bekommen. Einen Bruder!«
Für Nachtigall rückte Richard Mühlberg damit wieder ins Zentrum seiner Überlegungen.
»Ich kann jetzt nicht hier sinnlos meine Zeit mit Ihnen vertrödeln. Wir haben eine Zusammenkunft. Die Wölfe werden zunehmend zu einer Bedrohung in der Lausitz. Da sind wir Jäger gefordert!«
Olaf Gieselke lief ohne ein weiteres Wort hastig den Gang entlang und war verschwunden. Wenige Augenblicke später hörten sie das laute Poltern seiner Schritte auf der Holztreppe.
Achselzuckend wandte Nachtigall sich an Skorubski: »Sehen wir uns um!«
»Ich komm mir dabei immer wie ein unberechtigter Eindringling vor«, grollte der Kollege, der seit ungezählten Jahren auch Freund war. »Warum sagen wir nicht einfach der Spurensicherung Bescheid?«
»Weil ich nicht weiß, wonach wir suchen«, brummte Nachtigall und zog die oberste Schublade auf. »Wir versuchen, ein bisschen mehr über die beiden Kinder zu erfahren.«
»Aha!« Skorubski kümmerte sich um das andere Schubladenschränkchen. »Das sind eindeutig Kleidungsstücke, die einem Jungen gehören.«
»Also wissen wir jetzt, wer in welcher Zimmerhälfte geschlafen hat.«
Nachtigall ließ sich auf dem Bett des Mädchens nieder. »Ich hatte in dem Alter immer ein Buch unter dem Kopfkissen«, erklärte er schmunzelnd und tastete vorsichtig nach, ob sich unter Annabelles auch eines fände. Tatsächlich. Er zog es hervor.
»Eragon!«
»Das ist doch eher ein Buch für Jungs, oder? Ist das überhaupt schon was für eine Zehnjährige?«, fragte Skorubski, der einen Stapel Gameboy-Spiele durchsah.
»Das ist der erste Band. Ich kenne das Buch.« Ein bisschen wehmütig erinnerte er sich an seine langen Abende im Klinikum, als er Groovi , einem jugendlichen Streuner, der nach einem Drogenexzess behandelt werden musste, daraus vorgelesen hatte. Wie mochte es ihm heute gehen? Nachtigall nahm sich vor, den Jungen anzurufen. Es war Monate her, dass er zum letzten Mal mit ihm gesprochen hatte.
»Wer weiß? Vielleicht träumt sie auch davon, einen mutigen, klugen Drachen an ihrer Seite zu haben. In dem Alter fühlen sich Kinder manchmal ziemlich allein und verloren in der Welt.«
»Lesen Mädchen im Moment nicht eher diese Vampirreihe? Du weißt schon, diese Liebesgeschichte!«
»Ja, hätte ich auch gedacht. Annabelle wohl nicht.«
»Der Kleine hatte eine Menge Spiele für unterschiedliche Konsolen. Die Titel klingen harmlos. Sind wohl keine Ballerspiele
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