Gurkensaat
noch eine Leiche. Selbsttötung oder Unfall sind völlig ausgeschlossen. Und wir kennen den Toten: Wolfgang Maul.«
»Wo bist du?«
»Im Spreewald, hinter dem Fährhafen von Burg, im Hochwald.«
»Wo genau?«, fragte er geduldig nach. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, dass selbst erfahrene Kollegen nach dem Auffinden eines Mordopfers unklare Angaben machten.
Michael Wiener erkundigte sich nach der genauen Adresse. »Ich werde an der Zufahrt warten. Es ist ziemlich schlecht zu finden. Und der junge Mann – der sieht furchtbar aus.«
Albrecht Skorubski lenkte den Wagen aus der Einfahrt des Herrenhauses und fuhr zügig in Richtung Hauptstraße. »Das ist doch da, wo angeblich ein Wolf ein paar Schafe gerissen hat. Die Zeitung war voller kontroverser Leserbriefe. Dass Wölfe gefährlich sind und in Siedlungsnähe nichts zu suchen haben, wird mit der Argumentationslinie entkräftet, Wölfe meiden den Menschen, die Risse werden vom Land bezahlt, die Entschädigung ist großzügig«, erklärte er dabei. »Erst gestern hat meine Frau eine Reportage gesehen, in der von diesem schwelenden Konflikt zwischen Wolfsfreunden und Wolfsgegnern berichtet wurde. Offensichtlich ist die Atmosphäre sehr angespannt. Vor ein paar Tagen gab es einen Angriff auf eine Schafsherde in Schorbus. Kamerunschafe. Zehn tote Tiere! Die Wolfsfreunde behaupten nun, ein Hund sei an dem Massaker schuld.«
»Und nun?«
»Eine DNA-Analyse soll Klarheit bringen. Bis das Ergebnis vorliegt, wird wohl keine Ruhe einkehren.«
Nachtigall schüttelte den Kopf und fragte ungläubig: »Du glaubst, die Schafzüchter haben einen Wolfsfreund ermordet? Weil sie die Befürworter der Wiederansiedlung für die gerissenen Schafe verantwortlich machen? Also, Albrecht, das kann doch nicht wahr sein!«
»Na ja«, wand sich der Kollege, »wenn man es so formuliert, klingt es auch in meinen Ohren komplett verrückt. Aber das Thema Wölfe polarisiert nicht nur, es ist auch emotional stark besetzt. Den Wolf kann man nicht ein bisschen mögen. Hier gibt es nur Pro oder Kontra.«
»Man liebt ihn, oder man verabscheut ihn, ich weiß«, seufzte Nachtigall. »Dabei sind Wölfe für den Menschen nicht gefährlich. Sie gehen uns aus dem Weg. Auch Luchse sind keine Bedrohung, über deren Auswilderung wird fast ebenso heftig diskutiert wie über das Wolfsprogramm. In anderen Ländern lebt der Mensch selbst mit Bären in friedlicher Koexistenz. Schon seltsam, dass wir das hier nicht hinkriegen.«
»Spätestens seit Rotkäppchen wissen wir, was vom Wolf zu halten ist. Bei Schneeweißchen und Rosenrot kommt ein Bär vor. Lieb und harmlos. Am Ende verwandelt er sich gar in einen Prinzen. Ich kenne nicht ein Märchen, in dem einem Wolf etwas in der Art widerfährt. Er ist immer nur verfressen, böse oder wird vom schlauen Fuchs ausgetrickst.«
»Aber all diese Attribute haben wir ihm angedichtet. Nichts davon stimmt. Und nun soll ich annehmen, dass ein junger Mann ermordet wurde, weil wir inzwischen selbst an unsere Märchen glauben?«, schäumte Nachtigall.
»Ich meine ja nur, wir sollten das Potenzial dieses Konflikts nicht unterschätzen«, zog Skorubski sich auf sichereres Terrain zurück.
Michael Wiener wartete gut sichtbar an der Zufahrt, wie versprochen. »Ich hab den Tote scho g’sehe. Der Täter hat ›MÖRDER‹ auf die Rinde der Bäume g’schriebe. Wahrscheinlich mit dem Blut des Opfers. G’spenstische Atmosphäre dort hinten. Also ich würd da nicht gern die ganze Nacht über allein Wache halte!«
Während er sprach, führte er die Kollegen mit raumgreifenden Schritten zum Fundort der Leiche.
»Nur damit ich jetzt nicht alles durcheinanderbringe: Der Mörder hat das Wort ›Mörder‹ am Tatort hinterlassen? Dieser Mord ist die Rache für einen anderen?«
»Ja, so sehe ich das auch«, murmelte Skorubski atemlos, der neben den Kollegen herhetzte und versuchte, mit ihnen Schritt zu halten.
»Das Opfer wurde brutal erschlagen. Am Tatort findet sich jede Menge Blut. Vielleicht war er nicht sofort tot«, erklärte Michael Wiener.
Nachtigalls energischer Schritt geriet aus dem Rhythmus. »Nicht sofort tot?«
»Nein. Aber die Schläge waren sehr kraftvoll und auf den Kopf gerichtet. Er wird wohl sein Sterben nicht bewusst erlebt haben.«
»Tatwaffe?«
»Da sind sich die Kollegen von der Spurensicherung noch nicht sicher. Bisher wurde am Tatort nichts gefunden, was infrage käme. Er liegt dort drüben. Der Arzt vom Dienst ist auch schon bei ihm.«
Weitere Kostenlose Bücher