Gurkensaat
Fall, weil wir vergessen haben, etwas aufzuführen. Nein, nein. Das Risiko ist viel zu hoch.«
»Aber wenn man Gurken kauft, steht auf den Etiketten weitgehend derselbe Text – und doch schmecken die einzelnen Sorten anders«, widersprach Nachtigall.
»Die Menge der Zutaten schwankt. Zucker zum Beispiel. Manche verwenden Süßstoff. So was macht den Unterschied. Und der Punkt ›Gewürze‹ natürlich. Da muss nun nicht jedes Kräutlein einzeln aufgelistet werden.«
»Also jeder Hersteller mischt ein bisschen anders?«
»Ja«, bestätigte Gieselke und kniff sich in den Oberschenkel. Er saß hier im Krankenzimmer seiner Tochter, hatte gerade erst seinen Sohn verloren und unterhielt sich mit dem Ermittler über Gurken! »Hören Sie, ich habe eigentlich keine Lust, mit Ihnen über die Gurkenfabrik meines Vaters zu diskutieren«, stellte er klar und setzte eine abweisende Miene auf. »Wir kochen doch alle mit Natronlauge!«
»Also kann man mit dem Verkauf des Rezeptes nicht reich werden«, fragte Nachtigall unbeirrt.
»Nein, ich glaube nicht. Einige Hersteller mischen Weinblätter hinein, andere Nussbaumblätter. Sicher schmeckt jede Sorte einen Tick anders – aber es geht hier um Käuferbindung. Eher verdient man mit dem Verkauf des Namens. Die ›Gurklinge‹ sind unsere Marke. Die ist eingeführt und hat einen ziemlich großen Kundenstamm. Es ist zu befürchten, dass es die Kunden nur wenig interessiert, wer sie tatsächlich produziert. Hauptsache, der Geschmack verändert sich nicht und der Preis wird beibehalten. Wenn Sie nur das Rezept verkaufen, sind die Auswirkungen nicht so gravierend. Es gibt viele Lebkuchensorten, die gleich schmecken – aber für den Kunden schmeckt nur nach Pulsnitzer Lebkuchen, wo auch Pulsnitzer draufsteht.«
»Der Name Ihrer Hausgurke ist sicher geschützt?«
»Ja, selbstverständlich. Aber wenn mein Vater möchte, kann er die Fabrik und den Namen verkaufen. Und nun möchte ich das Thema wirklich beenden!«
»Ich kann Sie verstehen. Meine Fragen sind aber nicht zufällig, sondern für die Ermittlungen unverzichtbar. Unter welchen Umständen würde Ihr Vater zu solch einem Verkauf bereit sein? Oder ist das für ihn grundsätzlich undenkbar?«
Johannes Gieselke erhob sich und sah aus dem Fenster.
Er dachte so lange nach, dass Nachtigall schon glaubte, er wolle ihm darauf nicht antworten.
»Es müsste schon eine Situation eintreten, die eine andere Lösung aussichtslos erscheinen ließe.«
»Wenn man ihn bedrohte? Ihm den Tod androhen würde, um mit den Erben verhandeln zu können?«
Wieder nahm sich der Mann viel Zeit, ehe er die Frage beantwortete. »Nun, mein Vater würde wohl, um solch einen Deal unmöglich zu machen, mit den Erben einen Vertrag abschließen, der den Verkauf verbietet. Oder zusammen mit seinem Notar eine Klausel in sein Testament aufnehmen, die eine Veräußerung unmöglich macht. Und dann seinem Tod ins Auge sehen. Er hat seine Prinzipien. Aber diese Überlegung war bisher nicht relevant. Es ist eine Frage der Familienehre.«
»Sie glauben also, es ist unmöglich, Ihren Vater zu erpressen?«
»Nein. Eine Erpressung hat schon einmal funktioniert. Jemand hat menschliche Leichenteile in unseren Gurkengläsern deponiert. Zuerst vermutete die Polizei einen Anschlag auf den Ladenbesitzer, doch schnell wurde deutlich, dass die Gurkenfirma gemeint war, weil nämlich auch in anderen Geschäften Gieselkes Gurkengläser auftauchten, in denen abgetrennte Finger und sich zersetzende Augen zwischen den eingelegten Gurken schwammen. Eine ziemlich ekelerregende Angelegenheit. Mein Vater hat zum Ärger der Beamten stillschweigend gezahlt. Nach der zweiten Rate haben wir nie wieder etwas von diesem Erpresser gehört und auch unsere Gläser blieben unangetastet. Er war wohl zufrieden.«
Peter Nachtigall hatte, während Gieselke sprach, angewidert das Gesicht verzogen. Wäre ihm je solch ein Glas mit ›verändertem‹ Inhalt beim Einkaufen in die Hände gefallen, hätte er wohl bis zum Ende seiner Tage nie mehr Appetit auf saure Gurken bekommen.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, sind Sie der nächste Erbe?«
»Ja. Der älteste männliche Nachkomme. Wie in manchen Königshäusern!« Johannes Gieselkes Stimme war voll Bitternis.
»Maurice war Ihr ältester männlicher Nachkomme. Also endet die Erbfolge mit Ihnen.«
»Trauen Sie mir ruhig zu, dass ich mit meiner neuen Lebenspartnerin ein weiteres Kind zeuge! Vielleicht wieder einen Sohn!« Er lachte zornig.
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