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Gurkensaat

Gurkensaat

Titel: Gurkensaat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Steinhauer
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niemand richtig mit ihr. Manchmal fangen solche Patienten mit einzelnen Worten an, Sprechen kommt ihnen seltsam vor, ungewohnt. Und so klingen sie anfangs auch ungeübt und unbeholfen. Das bessert sich langsam. Aber Annabelle hat die Schwierigkeiten nicht.«
     
    Maurice’ große Schwester saß auf ihrem Bett und ließ die Beine baumeln.
    »Hallo, Annabelle, ich habe dir Herrn Nachtigall mitgebracht«, erklärte Schwester Lara überschwänglich und nickte dem Mädchen aufmunternd zu, bevor sie wieder auf den Gang verschwand.
    »Hallo«, sagte Annabelle leise.
    Nachtigall griff nach dem Besucherstuhl und setzte sich vors Bett.
    »Vielen Dank für das Bild, das du mir gemalt hast. Es zeigt Maurice’ Mörder, nicht wahr?«
    »Ja. Er ist weggerannt. So konnte ich ihn nur von hinten sehen.«
    »Kennst du ihn?«
    »Hm«, sie zog die Stirn kraus und dachte nach. »Möglich.«
    »Neben die Gestalt hast du ein Tier gemalt. Einen Wolf. Warum?«
    »Miranda meinte, das wäre eine gute Idee.« Erschrocken schlug Annabelle sich die Hand vor den Mund.
    »Miranda?«
    »Meine Freundin. Wir haben darüber gesprochen. Toni, das ist ein Freund von mir, war dagegen. Er hat gesagt, das verwirrt nur.«
    »Aber der Wolf sollte etwas bedeuten, nicht wahr?«, blieb Nachtigall so eng am Thema wie möglich. Wegen der Freunde konnte er später noch nachfragen.
    »Ja, natürlich. Ich habe den Wolf gemalt, weil ich für einen Moment dachte, es sei Wolfi gewesen«, erklärte sie altklug.
    »Wolfi?«
    Nachtigall sortierte seine Gedanken neu. Wolfgang Maul sollte der Mörder des Jungen sein? Welches Motiv könnte er gehabt haben? Immerhin, es könnte erklären, warum ›Mörder‹ auf den Bäumen stand. Aber bedeutete das auch, ein Gieselke hätte Wolfgang Maul getötet?
    »Das ist dieser Hilfsgärtner von Opa. Der hinkt so ein bisschen. Er hat sich vor ein paar Jahren bei einem Sprung aus dem Kirschbaum das Knie verletzt. Und als ich geträumt habe, dachte ich, der Mann habe auch gehinkt. Aber in Wahrheit weiß ich das nicht mehr genau.«
    »Du hast in der ersten Nacht hier in der Klinik davon geträumt.«
    Annabelle verzog trotzig das Gesicht. »Ich weiß schon. Jetzt glauben Sie, ich hätte das alles nur geträumt! Aber das stimmt nicht. Ich habe ihn laufen sehen!«
    »Natürlich glaube ich dir, dass du den Mörder hast fliehen sehen«, versuchte der Hauptkommissar, das Mädchen wieder zu beschwichtigen. »Du hast bestimmt noch ein paarmal vom Täter geträumt. Das verstehe ich gut. Erwachsene träumen auch oft von Dingen, die sie tagsüber erlebt haben.«
    »Das sagt Oma auch. Aber mein Vater behauptet, Erwachsene tun das nicht. Er träumt nicht«, erzählte Annabelle weiter, wieder versöhnt.
    »Doch, er träumt auch, er kann sich bestimmt nur nicht daran erinnern. Träume sind sogar sehr wichtig. Die Menschen verstehen oft nicht alles, was sie im Laufe eines Tages erleben oder erfahren. Träume helfen uns, Ordnung in manche Dinge zu bringen. Im Traum ist es manchmal leichter, Probleme zu durchschauen.«
    Annabelle fuhr nachdenklich mit dem Zeigefinger an der Außennaht ihrer Jeans entlang.
    »Du fühlst dich ein bisschen verlassen«, stellte Nachtigall fest.
    »Woher wollen Sie das wissen?« Tiefes Misstrauen blitzte in ihren Augen auf. »Ich bekomme oft Besuch.«
    »Ich weiß. Von deinen Eltern, Oma und Opa, von deinen Freunden, Miranda und Toni. Aber wir Menschen brauchen den anderen, damit wir mit ihm sprechen können. Irgendwie müssen wir ihm unsere Probleme erklären, sonst kann er nicht verstehen, was uns bedrückt und kann nicht helfen. Wenn jemand jeden Kontakt zu anderen einstellt, bleibt er folglich mit seinen Problemen allein. Er wird einsam, fühlt sich verlassen.«
    »So ganz allein bin ich wirklich nicht. Meine Freunde haben mich auch ohne Worte verstanden. Und mit meiner Mutter war ich Eis essen, sie hat die ganze Zeit gesprochen. Ich musste gar nicht reden. Mein Vater kommt nachher auch noch vorbei – er liest mir vor, dann ist es nicht still zwischen uns.«
    »Aber jetzt wirst du mit ihm sprechen, wie mit deinen Freunden?«
    Annabelle wiegte den Kopf, als sei sie noch unschlüssig.
    »Gehen Miranda und Toni in deine Klasse?«
    »Nein«, antwortete das Mädchen gedehnt. »In meine Klasse gehen nur so blöde Tussen. Mit denen will ich nicht befreundet sein.«
    »Tussen?«, fragte Nachtigall ratlos.
    »Na ja. Das sind solche Weiber, die sich grellbunt schminken und in Leggins mit hochhackigen Schuhen in die Schule

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