Gut gebrüllt Löwe
nie hatte es soviel Mühe gekostet, eine Treppe hinunterzukommen. Es war fast noch schwerer als hinauf. Endlich aber ging es leichter. Das kam wohl daher, daß der Teppich jetzt auch nach unten rutschte. Kolossalis konnte sich wieder umdrehen und Kopf voran auf die untersten Stufen zusteuern.
Was sie nicht bemerkt hatte, war, daß die Randverknotung diesen Zug nicht ausgehalten hatte und aufgegangen war. Nun ribbelte sich der Teppich auf — und was Kolossalis hinter sich herzog, war ein immer länger werdender, endloser Faden, der aus der Gewebekette züngelte. Immer kleiner wurde das, was einmal der Teppich gewesen war. Und Kolossalis kroch über die verschlungenen Wege des Parks wie ein Fischer, der ein Tau hinter sich herzieht.
Endlich schlüpfte sie durch ein Loch in der Mauer, gerade groß genug, um sich durchzuzwängen, und verschwand mit ihrer kostbaren Beute im Urwald.
Wo ist der Teppich?
Als die kluge Kobra an diesem Morgen, wie es ihre Pflicht war, in das Schlafzimmer des Prinzen schlüpfte, um die Vorhänge aufzuziehen und Panja zu wecken, erschrak sie fürchterlich. Mit geblähter Halskrause schien sie entsetzt durch ihre Brillengläser zu starren.
Prinz Panjas Bett war leer. Unordentlich und zerwühlt lagen Kissen und Decken herum.
Die Kobra züngelte wie ein Blitz zum weißen Elefanten, der vor Schmerz und Zorn laut trompetete, so daß alle aus ihren Schlafkammern kamen, der Flamingo, der Sultan und das Kamel.
»Das war Rao!« schrie der weiße Elefant. Er stampfte so wütend umher, als ob er alles zermalmen wollte.
»Aber wie ist das nur möglich?« stotterte der Sultan schlaftrunken.
»Mir nach, ehe es zu spät ist«, rief der weiße Elefant, und es klang wie ein heiseres Kreischen. Mit hocherhobenem Rüssel wollte er aus der Tür marschieren.
Da wieherte das Kamel: »Aber wo ist denn Löwe?«
Löwe war auch nicht da. Sein Lager war leer. Jetzt war das Rätsel noch größer. »Sollten sie vielleicht schon zusammen Raos Einladung angenommen haben?« überlegte der Sultan.
Als sie so für einen Augenblick nachdachten und sprachlos waren, hörten sie es auf der Terrasse fröhlich lachen und rufen. Sie stürzten ans Fenster und sahen einen vergnügten Knaben, der sich mit einem Löwen balgte, mal über, mal unter ihm lag und schließlich auf ihm ritt, wobei er sich in seine dichte Halskrause kuschelte.
»Sag mal«, hatte der Prinz gerade Löwe gefragt, »was hast du hier unter deiner Mähne für ein Halsband mit einer Ledertasche?«
»Ach«, hatte Löwe geantwortet, »darin ist das Taschentuch, das Pips mir geschenkt hat, als sie mich aus der Grube befreite. Ich trage es immer bei mir.«
Alle waren froh. »So vergnügt habe ich ihn nur aus seiner frühesten Kindheit in Erinnerung«, flüsterte der weiße Elefant der Kobra ein wenig eifersüchtig zu, worauf sie ihm antwortete: »Weißt du, du bist halt ein bißchen zu massig zum Raufen und Rumkugeln!«
Der Prinz strich sich, als sie entdeckt wurden, etwas verlegen das zerzauste Gewand glatt und sagte: »Ich will unter uns nichts mehr von Förmlichkeiten wissen. Es kommt mir vor, als ob ich lange geschlafen hätte und nun endlich aufgewacht wäre. Vielleicht, weil ich so einen großen, guten Freund gefunden habe!«
Löwe neigte beschämt das dicke Haupt.
Dann setzten sie sich nieder und besprachen die neue Lage.
»Natürlich darfst du niemals Raos Einladung annehmen«, zischte die Kobra. »Er würde dich sofort in den Kerker sperren!«
»Ich muß gehen!« sagte Prinz Panja. »Ich habe es versprochen. Ein Prinz muß sein Wort halten. Ich glaube auch nicht, daß Rao das wagen wird.«
»Ich begleite ihn ja. Wehe, wer ihm zu nahe kommt!« brummte Löwe.
»Ich bin dagegen«, sagte der Sultan. »Auch Löwe kann den Prinzen nicht beschützen, wenn Rao seine List anwendet.«
»Ein anderer Junge, der so aussieht wie der Prinz und seine Kleider trägt, soll für ihn gehen«, schlug das Kamel vor. Alle nickten beifällig.
Aber Prinz Panja winkte empört ab. »Wie könnt ihr das nur denken! Nie würde ich so etwas Unehrenhaftes tun! Das wäre ein Betrug und würde einen anderen für mich in Gefahr bringen!«
»Dann bleibt nur eines«, sagte der Sultan. »Prinz Panja und Löwe nehmen die Einladung an. Löwe muß dafür sorgen, daß immer eine Tür offenbleibt. Am besten wäre es, sie blieben im Burghof. Der Flamingo muß in der Nähe herumfliegen und sie beobachten. Sobald dem Prinzen Gefahr droht, muß er laut schreien und uns
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