Gut gegen Nordwind
schicke, beschweren Sie sich ebenfalls. Ich glaube, ich kann es Ihnen derzeit nicht recht machen, liebe Emmi.
20 Sekunden später
RE:
Nicht per E-Mail!!! Angenehmen Abend, Herr Leike.
Nach vier Tagen
Kein Betreff
Kuckuck! Lg, Emmi.
Am nächsten Tag
Kein Betreff
Leo, wenn das Taktik sein soll, ist es eine miese Taktik! Sie können mich gern haben. Ich schreibe Ihnen nicht mehr. Tschüss.
Fünf Tage später
Kein Betreff
Aber Strom haben Sie schon noch, Leo, oder?
Ich mache mir langsam Sorgen um Sie. Schreiben Sie wenigstens »Määäh!«
Drei Minuten später
AW:
Okay, Emmi, von mir aus treffen wir uns. Wollen Sie noch? Wann? Heute? Morgen? Übermorgen?
15 Minuten später
RE:
Sieh an, der Verschollene! – Und jetzt hat er es auf einmal ziemlich eilig, mich zu treffen. Ja, möglicherweise will ich noch. Aber zuerst erklären Sie mir, warum Sie sich eineinhalb Wochen nicht gemeldet haben. Und bitte erklären Sie es gut!!
Zehn Minuten später
AW:
Meine Mutter ist gestorben. Gut erklärt?
20 Sekunden später
RE:
Scheiße. Ehrlich? Woran?
Drei Minuten später
AW:
Alles in allem an ihrem Unglück. Im Spital sagen sie »bösartiger Tumor« dazu. Es ist zum Glück ziemlich schnell gegangen. Körperlich hat sie nur noch kurz gelitten.
Eine Minute später
RE:
Waren Sie bei ihr, als sie starb?
Drei Minuten später
AW:
Beinahe. Ich war mit meiner Schwester im Warteraum. Die Ärzte hatten gemeint, es sei jetzt nicht so günstig, sie zu sehen. Ich frage mich, wann es jemals »günstiger« gewesen wäre.
Fünf Minuten später
RE:
Hatten Sie eine starke Bindung zu ihr? (Verzeihen Sie, Leo, es sind immer die gleichen Fragen, die man da stellt.)
Vier Minuten später
AW:
Noch vor einer Woche hätte ich gesagt: Nein, ich hatte überhaupt keine Bindung zu ihr. Heute frage ich mich, was, wenn nicht »Bindung«, zerfrisst mir da den Magen. Ich will Sie aber nicht mit meiner Familiengeschichte langweilen, Emmi.
Sechs Minuten später
RE:
Das tun Sie überhaupt nicht, Leo. Wollen Sie mich treffen und darüber sprechen? Vielleicht bin ich genau die Richtige in dieser Situation. Ganz weit draußen aus Ihrem Leben – und doch irgendwie nah an Ihnen dran. Vergessen wir einmal alle Äußerlichkeiten – und treffen wir uns wie gute, alte, enge Freunde.
Zehn Minuten später
AW:
Ja gut, ich danke Ihnen Emmi! Treffen wir uns heute Abend? Ich warne Sie aber. Ich habe soeben einen neuen Höhepunkt meiner »Humorlosigkeit« erreicht.
Drei Minuten später
RE:
Lieber, lieber Leo, heute Abend geht es leider nicht. Aber morgen Abend! So gegen 19 Uhr? In einem Innenstadt-Café?
Acht Minuten später
AW:
Morgen ist das Begräbnis. Aber 19 Uhr müsste sich ausgehen. Ich schreibe Ihnen bis 17 Uhr eine E-Mail. Dann machen wir uns aus, wo genau wir uns treffen. Einverstanden?
Zehn Minuten später
RE:
Ja, Leo, machen wir es so. Ich würde Ihnen noch gerne etwas Tröstendes sagen. Aber das klingt dann vielleicht wie »Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr«. Also lasse ich es lieber. Ich bin ganz bei Ihnen. Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist. Ich wage jetzt nicht einmal, Ihnen »Gute Nacht« zu wünschen. Denn diese Nacht, die wird sicher nicht gut werden. Aber morgen Abend will ich Ihnen eine Stütze sein. Bis bald, Emmi! (Trotz der beklemmenden Umstände: Ich freue mich auf Sie!)
Fünf Minuten später
AW:
Ich freu mich auch! Leo.
Am nächsten Tag
Betreff: Absage
Liebe Emmi, ich muss für heute leider absagen. Ich erkläre Ihnen morgen, warum. Bitte nicht böse sein. Und danke, dass Sie für mich da gewesen wären. Das rechne ich Ihnen ganz hoch an! Liebe Grüße, Leo.
Zwei Stunden später
RE:
Ist gut. Emmi.
Am nächsten Tag
Betreff: Marlene
Liebe Emmi, ich habe den Abend gestern mit Marlene, meiner früheren Lebensgefährtin, verbracht. Sie war auch beim Begräbnis. Sie hatte meine Mutter sehr gemocht und umgekehrt. Es war mir wichtig, mit ihr über alles zu reden. Sie ist ein Schlüssel, sie kann Tore meiner sperrigen Familiengeschichte öffnen. Sie hatte auch den Zugang zu meiner Mutter, der mir immer fehlte. Marlene war gestern in schlechter Verfassung. Ich war derjenige, der sie trösten musste. Ich war glücklich über diese Rolle. Ich halte es nicht aus, bemitleidet zu werden. Lieber bemitleide ich jemanden. (Manchmal auch mich selbst, aber das behalte ich gern für mich.) Ich hoffe, Sie sind mir
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