Gut gegen Nordwind
Emmi, Sie dürfen nicht mein Gewissen werden wollen! Um bei einem Ihrer Lieblingsthemen zu bleiben: Es muss Ihnen egal sein, wann ich mit wem wie oft und auf welche Art Sex habe. Ich frage Sie ja auch nicht danach, wie das mit Ihnen und Ihrem Bernhard im Bett so funktioniert. Ehrlich gesagt: Es interessiert mich auch überhaupt nicht. Das bedeutet nicht, dass ich niemals erotische Vorstellungen habe, wenn ich an Sie denke. Aber die halte ich behutsam von Ihnen fern, die will ich Ihnen nicht zumuten. Die sind allein in mir und dort bleiben sie auch. Wir dürfen nicht beginnen, in die Privatsphäre des anderen einzudringen. Das kann zu nichts führen.
Emmi, diese paar scheinbar belanglosen Worte mit Ihnen über den Tod meiner Mutter, die haben mir wahnsinnig gut getan. Da war wieder diese zweite Stimme in mir, die mir »meine« fehlenden Fragen stellt, die mir »meine« ausstehenden Antworten gibt, die permanent meine Einsamkeit durchbricht und unterwandert. Ich hatte sofort den dringenden Wunsch, Sie noch näher an mich heranzulassen, Sie ganz nahe bei mir zu haben. Hätten Sie noch am selben Abend Zeit gehabt, wäre das auch geschehen. Es wäre heute alles anders zwischen uns. Alle Geheimnisse wären fort, alle Rätsel aufgelöst. Ich hätte Ihnen gleich nach der Begrüßung einen schweren Rucksack mit familiäremBallast umgehängt, wir wären beide damit in die Knie gegangen. Kein Zauber mehr, keine Illusionen. Wir hätten geredet, geredet und geredet, bis wir uns »ausgeredet« hätten, und dann? – Ernüchterung, was sonst. Wie meistert man die Unmittelbarkeit der Begegnung, wenn man sie nie trainiert hat? Wie hätten wir uns angesehen? Was hätten wir in dem anderen plötzlich gesehen? Wie würden wir einander heute schreiben? Was würden wir schreiben? Würden wir einander noch schreiben? Emmi, ich habe einfach Angst, meine »zweite Stimme« zu verlieren, die Stimme Emmi. Ich will sie behalten. Ich will behutsam mit ihr umgehen. Sie ist unentbehrlich für mich geworden. Ihr Leo.
Drei Stunden später
RE:
Um an eines meiner Lieblingsthemen anzuknüpfen: Tut mir Leid – ES IST MIR ABER NICHT EGAL, WANN SIE MIT WEM WIE OFT UND AUF WELCHE ART SEX HABEN! Wenn ich schon die auserwählte »zweite Stimme« von jemandem bin, dann habe ich auch Stimmrecht, wenn es darum geht, zu beurteilen, ob es angemessen ist, wann dieser jemand mit wem wie oft und auf welche Art Sex hat. (Wobei ich zugeben muss, dass ich mich mit dem Passus »Auf welche Art« bisher noch relativ wenig ausführlich beschäftigt habe, lieber Leo. Aber das lässt sich ja nachholen.) So, jetzt lasse ich Sie mit Ihrer Solostimme allein. Fortsetzung folgt morgen. Küsschen, Emmi.
Eineinhalb Stunden später
AW:
Darf ich auch einmal zynisch sein, geschätzte Emmi? Angenommen, ich wäre das »Zottelmonster« aus dem Messecafé Huber: Wäre Ihnen dann auch nicht egal, wann ich mit wem wie oft und auf welche Art Sex habe? Oder anders: Ist es Ihnen nicht nur deshalb nicht egal, wann ich ... und so weiter, weil Sie in Ihren E-Mails an mich einem Männerideal nachjagen, bei demes Ihnen – trotz ehelichem Liebesglück mit Bernhard – einfach nicht egal sein kann, wann er mit wem ... und so weiter? Das würde nämlich meine Theorie bestätigen, dass wir beide wechselweise die jeweilige Stimme unserer Fantasie sind. Ist das nicht schön und wertvoll genug, um es dabei zu belassen?
Am nächsten Tag
Betreff: Erste Antwort
Lieber Leo, wissen Sie, was ich an Ihnen wirklich verabscheue? – Ihre Formulierungen, wenn es um meinen Mann geht. »Trotz ehelichem Liebesglück mit Bernhard« – bitte was soll der Scheiß? »Eheliches Liebesglück«, das klingt (und zwar absichtlich!) nach: »Durchführung der ehelichen Pflichten des partnerschaftlichen Beischlafs«. Oder: »Durch einen Standesbeamten abgesegneter regelmäßiger Vollzug des Geschlechtsverkehrs mit entsprechendem Austausch von Körperflüssigkeiten.« Lieber Leo, Sie spotten über meine Ehe! Da bin ich sehr empfindlich. Hören Sie auf damit!
45 Minuten später
AW:
Emmi, Sie reden andauernd nur über Sex. Das ist schon pathologisch!
Eine Stunde später
RE:
Ich habe noch gar nicht richtig angefangen, über Sex zu reden, lieber Freund. Da waren ja gestern ein paar beachtliche Würfe von Ihnen dabei. Zum Beispiel die Sache mit den »erotischen Vorstellungen«, wo sie zwei Verneinungen brauchen, um mir zu sagen, dass es nicht so ist, dass Sie mir gegenüber niemals welche gehabt
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