manches kommt Ihnen in die falsche Kehle. Aber Ihre Ausdauer, an mir dran zu bleiben, zeigt mir, dass ich so sein darf, wie ich bin. Und, darf ichwieder einmal ein bisschen Werbung für mich machen? – Ich bin viel, viel zahmer, als es in meinen E-Mails den Anschein hat. Das heißt: Mag da jemand schon die Emmi, die sich gehen lässt, die sich überhaupt nicht bemüht, gut dazustehen, die mit Feuereifer ihre negativen Eigenschaften hervorkehrt – ja, Leo, ich bin eifersüchtig, ich bin misstrauisch, ich bin ein bisschen neurotisch, ich habe keine prinzipiell extrem hohe Meinung vom anderen Geschlecht, vom eigenen übrigens auch nicht – jetzt habe ich den Faden verloren, also: Mag da jemand schon die Emmi, die sich gar nicht bemüht, gut zu sein, die eher ihre sonst unterdrückten Schwächen auslebt, wie mag er dann erst die Emmi, wie sie wirklich lebt, weil sie weiß, dass man sich den anderen nur bedingt so zumuten kann, wie man ist, ein Bündel von Launen, ein Container von Selbstzweifel, eine Komposition der Unstimmigkeiten.
Es geht aber nicht nur um mich. Leo, ich beschäftige mich ständig mit Ihnen. Sie besetzen ein paar Quadratmillimeter meines Großhirns (oder Kleinhirns, oder Hirnanhangdrüse, keine Ahnung, wo im Hirn man an so wen wie Sie denkt). Sie haben dort effektiv Ihre Zelte aufgeschlagen. Ich weiß nicht, ob Sie der sind, als der Sie schreiben. Aber sind Sie nur ein Teil von diesem, so sind Sie schon ein ganz besonderer. Es sind Ihre Zeilen und meine Reime darauf: die ergeben so in etwa einen Mann, wie ich mir plötzlich vorstelle, dass es sein kann, dass es so jemanden wirklich gibt. Sie haben immer von Ihrer »FantasieEmmi« geschrieben. Ich bin vielleicht weniger bereit, mich mit einem »Fantasie-Leo« zufrieden zu geben, mir jemanden, den ich so gern mag, auf Dauer nur einzubilden. Der muss schon aus Fleisch, Blut und Ähnlichem sein. Und er muss einer Begegnung mit mir standhalten können. So weit sind wir noch nicht. Aber ich spüre in mir, dass wir unserer Begegnung mit schreiberischen Mitteln immer näher kommen können. Bis wir uns einmal gegenüberstehen. Oder gegenübersitzen. Oder knien. Ist ja egal.
Leo, nehmen wir die E-Mail, die ich Ihnen gerade schreibe: DieVorstellung, dass Sie sie Wort für Wort abklopfen, um wissenschaftliche Erkenntnisse daraus zu gewinnen, um Beispiele zu zitieren, wie und womit man Emotionen transportieren kann, oder, noch schlimmer, womit man Emotionen beim anderen wecken kann, wie man schreiben muss, damit der andere emotionell hineinkippt, diese Vorstellung ist so grauenhaft, dass ich schreien könnte vor Schmerz!!! Bitte sagen Sie, dass unser Dialog nichts mit Ihrer Studie zu tun hat. Und bitte verzeihen Sie mir, dass ich das annehmen musste. Ich bin so ein Mensch: Ich muss vom Schlimmsten ausgehen, damit ich Immunkräfte aufbauen kann, mit denen ich es dann ertrage, wenn es sich wirklich als wahr herausstellt.
Leo, das war bisher meine längste E-Mail an Sie. Ignorieren Sie sie nicht. Kommen Sie wieder zurück. Brechen Sie Ihre Zelte nicht ab unter meiner Hirnrinde. Ich brauche Sie! Ich ... schätze Sie! Ihre Emmi.
PS: Ich weiß, es ist schon sauspät. Aber ich bin sicher, dass Sie noch munter sind. Und ich bin überzeugt davon, dass Sie noch in Ihre Mailbox schauen werden. Sie müssen mir jetzt nicht mehr antworten. Aber vielleicht schreiben Sie mir nur ein einziges Wort, damit ich weiß, dass Sie meine Nachricht erhalten haben? Ein Wort, ginge das? Es können auch zwei Worte sein, oder drei, wenn das leichter geht. Bitte. Bitte. Bitte. Bitte. Bitte.
Zwei Sekunden später
AW:
ABWESENHEITSNOTIZ. DER EMPFÄNGER IST VERREIST UND KANN SEINE E-MAILS ERST WIEDER AM 18. MAI AUFRUFEN. IN DRINGENDEN FÄLLEN WIRD ER VOM PSYCHOLOGISCHEN INSTITUT DER UNIVERSITÄT VERSTÄNDIGT. DIE E-MAIL- ADRESSE LAUTET:
[email protected].
Eine Minute später
RE:
Das ist das Letzte!
KAPITEL FÜNF
Acht Tage später
Betreff: Wieder da!
Hallo Emmi, ich bin wieder zurück. Ich war in Amsterdam. Marlene hat mich begleitet. Wir hatten wieder einen Anlauf genommen. Es war ein kurzer Anlauf. Nach zwei Tagen lag ich mit einer Lungenentzündung im Bett. Es war beschämend für mich, sie hat fünf Tage lang Fiebermesser geschüttelt und mich dabei bitter-gütig angelächelt, wie eine Krankenschwester im 30. Dienstjahr, die ihren Job hasst, aber ihre Patienten dafür nicht verantwortlich zu machen versucht. Amsterdam war das Gegenteil von dem, was ich mir darunter