Gut gegen Nordwind
vorgestellt hatte, kein Neubeginn, sondern ein Alt-Ende, eines, worin wir in den Jahren ja schon große Routine gesammelt haben. Wir sind diesmal sehr respektvoll auseinander gegangen. Sie hat gesagt, wenn ich etwas brauche, ist sie jederzeit für mich da. Sie hat gemeint – irgendwas aus der Apotheke. Und ich habe gesagt: Wenn du dir wieder einmal einbildest, nicht ohne mich leben zu können, und ich mir noch immer sicher bin, nicht ohne dich leben zu können, dann fliegen wir einfach ein paar Tage nach Amsterdam – und beweisen uns das Gegenteil.
Ich habe Marlene übrigens von uns erzählt. Sie hat darauf reagiert, als wäre dieser Zustand kritischer als meine Lungenentzündung. Ich habe gesagt: Es gibt da eine Frau aus dem Internet, die mich sehr beschäftigt. Sie: Wie alt ist sie? Und wie sieht sie aus? Ich: Keine Ahnung. Zwischen dreißig und vierzig. Entweder blond, dunkel oder rot. Jedenfalls ist sie glücklich verheiratet. Sie: Du bist krank!
Diese Frau, sage ich zu ihr, gibt mir die Möglichkeit, an wen anderen zu denken als an dich, Marlene, und trotzdem Ähnliches zu fühlen. Sie wühlt mich auf, regt mich auf, ich könnte sie manchmal auf den Mond schießen, aber genauso gerne hole ich sie mir von dort wieder herunter. Ich brauche sie nämlich hier auf der Erde. Sie kann zuhören. Sie ist klug. Sie ist witzig. Und, was das Wichtigste ist: Sie ist für mich da. »Wenn es gut für dich ist, ihr zu schreiben, dann schreibe ihr«, hat mir Marlenemit auf den Weg ins Bett gegeben. »Und nimm die Tabletten!«, hat sie ergänzt.
Emmi, ich bin ratlos. Wie komme ich von dieser Frau weg? Sie ist eine Kühlbox, aber mir wird heiß, wenn ich sie angreife. Wenn ich neben ihr durch Amsterdam gehe, hole ich mir eine Lungenentzündung. Aber wenn sie mir in der Nacht ihre Hand auf die Stirn legt, beginne ich zu glühen.
So, Emmi, Teil zwei: Ich bin also wieder zurück. Ich denke nicht daran, meine Zelte unter Ihrer Hirnrinde freiwillig abzubrechen. Ich möchte, dass wir uns weiter schreiben. Und ich möchte, dass wir uns auch persönlich kennen lernen. Wir haben alle der Vernunftbegabung des Menschen entsprechenden, logischen, nahe liegenden, richtigen Zeitpunkte dafür bereits versäumt. Wir haben die simpelsten Spielregeln des Miteinanders negiert. Wir sind alte innige Freunde, gegenseitige Alltagsstützen, ja manchmal sind wir sogar ein Liebespaar. Und bei alldem fehlt uns der natürliche Anfang der Begegnung. Wir werden ihn nachholen, ganz bestimmt! Wie wir das anstellen, ohne etwas von dem, was uns beide ausmacht, zu verlieren, weiß ich noch nicht. Wissen Sie’s?
So, Emmi, Teil drei: Ich habe meine E-Mail bewusst mit Marlene begonnen. Ich wünsche mir nämlich, dass wir uns mehr aus unserem Leben erzählen. Ich will nicht mehr so tun, als gäbe es nur uns zwei. Ich will wissen, wie Sie Ihre Ehe meistern, wie Sie mit den Kindern zurechtkommen und all diese Dinge. Es wäre schön, wenn Sie mir auch Ihre Sorgen mitteilen. Es tröstet mich zu wissen, dass nicht nur ich welche habe. Es tut mir gut, darauf einzugehen. Es ehrt mich, in Ihr engstes Vertrauen gezogen zu werden.
So, Emmi, Teil vier: Hassen Sie mich bitte nie wieder präventiv! Ich ertrage das nicht. Ich habe meine Mitarbeit an der Studie über den Einfluss der E-Mail auf unser Sprachverhalten und ihre Bedeutung als Transportmittel von Gefühlen Anfang März aufgekündigt. Als offiziellen Grund habe ich Zeitmangel angegeben. Tatsächlich ist mir dieses Thema zu »privat« geworden,um mich damit wissenschaftlich beschäftigen zu wollen. Alles klar, Emmi? Schönen Tag, Ihr Leo.
(PS: Einerseits war meine »Abwesenheitsnotiz« die gerechte Strafe für Ihre aggressive Misstrauensnote. Anderseits haben Sie mir Leid getan. Sie haben mir eine wahnsinnig schöne, offene, aufrichtige und ausführliche Mitteilung geschrieben. Danke für jedes Wort! Jetzt haben Sie wieder ein paar Frechheiten gut.)
45 Minuten später
RE:
Sie haben Ihre Studie wegen uns beiden aufgegeben? – Leo, das ist schön, dafür liebe ich Sie! (Zum Glück ahnen Sie nicht, in welcher Weise ich Ihnen das gerade gesagt habe.) Ich muss jetzt mit Jonas zum Zahnarzt. Leider steht er noch nicht unter Vollnarkose. Das nur auf Ihre Frage, wie ich mit den Kindern zurechtkomme. Bis später, Emmi.
Sechs Stunden später
RE:
So, Leo. Ich sitze in meinem Zimmer, Bernhard arbeitet noch, Fiona nächtigt bei einer Freundin, Jonas schläft (mit zwei Zähnen weniger), Wurlitzer frisst Hundefutter
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